Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
ihrer Nähe – für die Zuschauer unsichtbar – standen drei der Oni-Krieger verborgen. Dank der Maske sah Nadja ihre wahre Gestalt: Sie waren bizarre Mischwesen aus Tier und Mensch. Zwei von ihnen hatten die Gesichter von Wölfen, einer das eines Affen. Ihre kleinen roten Augen glitzerten, und ihre Mäuler verzogen sich gehässig. Nadja spürte, dass den Zuschauern bereits geringe Teile ihrer Energie genommen wurden. Die drei Wesen summten leise vor sich hin, sie schienen ganz in sich selbst versunken.
Nadja zitterte. Je länger sie die Geschöpfe betrachtete, desto unkontrollierter wurde ihre Furcht. Sie hatte das Gefühl, an einem bodenlosen Abgrund zu stehen. Wenn sie nur einen Schritt in die falsche Richtung machte, würde sie hinabstürzen, bis ihr Schrei in unendlicher Tiefe verklang.
Und gegen diese Dinger will ich mich tatsächlich stellen?
Nadja versuchte das Zittern ihres Körpers in den Griff zu bekommen, doch es wurde mit jeder Minute schlimmer. Sie wollte fort, nur fort; rennen, bis ihre Beine ihr den Dienst versagten und sie irgendwo in Sicherheit zusammenbrach.
Aber das geht nicht. Das ziehe ich jetzt durch, kneifen gilt nicht. Habe ich noch nie gemacht, fange ich auch nicht an
.
Vor ihr tauchte das vergnügte Gesichtchen ihres Sohnes auf. Die runden Wangen, die spitzen Öhrchen und diese nachtblauen Augen, in denen Hoffnung und Zuversicht lagen. Sie hörte das glucksende Geräusch, das Talamh schon machen konnte, sein Lachen. Ihr war, als könne sie für einen Moment seine feine Stimme in ihrem Kopf hören.
Sieh auf die Maske
.
In diesem Augenblick drehte Karkino sich bei einem Gang über die Bühne zu ihr um. Er hielt das Gesicht von den Zuschauern abgewandt und sah sie direkt an. Nadja spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. In seinem Blick lagen jahrhundertealte Bosheit und der Wille, zu vernichten.
Sieh auf die Maske
. Talamhs Stimme!
Mit aller Kraft bemühte sich Nadja, den Blick von Karkinos Augen zu nehmen und nur auf die schwarze Maske zu sehen, die der Halbgott trug. Sofort strömte eine tiefe Ruhe in sie ein. Nadja erinnerte sich plötzlich, dass sie dieses Phänomen bereits erlebt hatte, als sie das erste Mal im Theater gewesen war. Auch damals hatte sie fliehen wollen und dann auf Karkinos Maske geblickt.
Ob das an dem guten Geist liegt, der in ihr gefangen ist?
Nadja schauderte.
Neben ihr traten die Geister des Chores hervor, die drei Oni-Krieger in ihren prunkvollen schwarzblauen Gewändern aus Brokat und Seide, und begannen zu singen.
Nadja drückte sich die Hände gegen die Ohren. Auch in ihr wuchs Verlangen. Es war schier unmöglich, sich diesen samtigen Stimmen zu entziehen, die ihren Geist mit sich rissen und sie in feucht glitzernde Abgründe rissen.
War das Karkinos Plan? Hoffte er, sie allein durch den Gesang der Oni-Krieger und durch seine Stimme verwirren zu können, um ihr am Ende den Geist zu rauben?
Nadja biss sich in die Wange, bis sie Blut schmeckte. Der Schmerz war scharf und heilsam. Er lenkte sie von den vibrierenden Tönen ab, die unverfroren in sie drangen und sie erschauern ließen.
Ich muss mich zusammenreißen! Bald kommt mein Stichwort!
Tatsächlich machte Karkino schon den kurzen, schwebenden Gang zum Baum, vollführte eine symbolische Geste mit der Hand und lud die Geister seiner verstorbenen Ahnen ein, zu ihm zu kommen. Nadja atmete tief durch.
Langsam und schwebend kam sie aus ihrem Versteck hervor. Die Kraft der Maske und die Nähe der Ley-Linie halfen ihr dabei. Wieder konnte sie auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne in den Wald von Bóya sehen, hinter dem sich schneebedeckte Berge in den Himmel streckten. Gleichzeitig sah sie den Zuschauerraum und die Menschen, die erwatungsvoll zu ihr heraufstarrten. Sie spürte die Hitze des Scheinwerferlichtes auf ihrem Gesicht. Ganz vorsichtig trat sie zum Baum, so weit wie möglich von Karkino entfernt.
Erst leise, dann immer lauter sprach sie in einem Singsang die Worte, die Chiyo sie gelehrt hatte. Sie rief die Göttin an, ohne ihren Namen zu erwähnen.
Karkino war stehen geblieben und musterte sie misstrauisch, aber auch mit Interesse. Nadja fühlte sich wie ein Insekt in den Händen eines Sammlers. Gleichzeitig spürte sie, wie sie sich geistig immer mehr von der Bühne und dem gefüllten Zuschauerraum entfernte. Die Worte quollen aus ihr heraus wie das Wasser aus einer silbern blitzenden Quelle. Stetig wurden sie größer, erfüllten den Raum, wurden zu mehr. Nadja ging ganz in diesem
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