Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
weiß, was für eine furchtbare Zeit das ist, ja, es ist spät.« Sie musste sich bemühen, durchgehend Französisch zu benutzen.
Der Mann am anderen Ende klang gereizt. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Oreso. Nadja Oreso. Ich bin eine Freundin von Mira.«
»Oreso? Diese Journalistin mit der Reportage über den Sänger in Paris? Boy ...«
»Boy X, ja.«
»Eine sehr einfühlsame Geschichte. Mira hat mich damals auf die Story aufmerksam gemacht, sie ist mir immer noch im Gedächtnis.« Der Mann klang schon ein wenig versöhnter. Nadja war erleichtert. »Was kann ich denn für Sie tun, Madame Oreso?«
»Ich befinde mich zurzeit in Tokio.«
»Mon Dieu! Dann ist es bei Ihnen sicher fünf Uhr morgens. Arbeiten Sie wieder an einer Reportage?«
»Ja. Ich muss in Tokio einen Mann finden, aber ich kenne mich hier überhaupt nicht aus. Mira erzählte, Sie hätten früher einige Jahre in Tokio gearbeitet.«
»Das ist richtig.«
»Ich brauche unbedingt einen Kontakt, der weiß, was sich in Tokio tut. Der auf dem neusten Stand ist, was das öffentliche Leben betrifft. Vielleicht einen Journalisten, der hier für eine Stadtzeitung schreibt und Englisch oder Deutsch spricht. Leider beherrsche ich kein Japanisch. Es wäre großartig, wenn Sie mir weiterhelfen könnten.« Ihre Stimme klang hilflos und bittend. Sie versuchte, einen Beschützerinstinkt in ihrem Gesprächspartner zu wecken. Diesen Trick hatte sie schon oft angewandt. Insbesondere bei älteren Männern funktionierte er erstaunlich gut.
Ihr Gesprächspartner überlegte eine Weile. »Es gibt da eine Frau, die ich früher oft kontaktiert habe. Yuko Omote. Sie ist ein Junkie, was Neuheiten in der Metropole betrifft. Wenn Sie wollen, könnte ich versuchen, ihre Nummer herauszufinden.«
»Das wäre großartig!« Nadja spürte unendliche Erleichterung. Nach all den Stunden der Suche gab es endlich einen greifbaren Fortschritt. »Rufen Sie mich bitte umgehend an, sobald Sie mehr wissen! Egal, um welche Uhrzeit. Ich gebe Ihnen meine Durchwahl im Hotel, ein Handy habe ich momentan leider nicht. Sollte ich nicht im Zimmer sein, rufe ich so schnell wie möglich zurück.«
Nadja klärte alles Nötige ab und lehnte sich dann erschöpft, aber zufrieden im Sessel zurück. Sie betrachtete all die Nummern auf den winzigen weißen Zetteln um sich herum. Der kleine Block, den sie sich von der Rezeption besorgt hatte, war nahezu vollgeschrieben.
Es ist schade, dass ich Tom nicht erreicht habe
. Gerade das war ihr am wichtigsten gewesen. Während sie telefoniert hatte, war ihr nämlich eines aufgegangen: Sie hatte mit Fabio ihren Anker verloren – aber Tom war an seine Stelle getreten. Die sichere Basis in München, auf die sie sich verlassen konnte. Seit seiner Unterstützung damals in Venedig war Tom zum Vertrauten geworden und wusste über die Elfenwelt Bescheid. Er hatte versprochen, sich um Nadjas Wohnung zu kümmern, und das machte er bestimmt nach wie vor. Sie waren Freunde. Daran glaubte Nadja ganz fest, weil es alles war, was sie von ihrem früheren Leben noch hatte.
Sie schloss die Augen. Von allen geführten Telefonaten war das letzte das meistversprechende gewesen. Endlich konnte sie sich ausruhen. Bleierne Müdigkeit machte sich in ihr breit. Der Raum um sie verschwand. Sie übertrat die Grenze und sank in einen unruhigen Schlaf.
In Irland stand sie auf einer grünen Wiese. Das graublaue Meer brandete gegen das Land, Gischt schäumte auf, rauer Wind fuhr über sie hinweg und brachte salzige Luft mit sich. Ganz in ihrer Nähe war Bandorchu. Sie trug ein reich verziertes schwarzes Spitzenkleid mit prächtigen eingewirkten Gemmen, die blutrot schimmerten. In ihren Armen hielt sie Talamh. Sie beugte sich vor. Legte ihre Lippen auf seine, als wolle sie ihn küssen
.
»Nein!« Nadja rannte los, doch je näher sie Bandorchu kam, desto weiter schien die Dunkle Frau entfernt. Sie hörte Talamhs Schreie. Sein ängstliches, verzweifeltes Weinen. »Nein!«, schrie Nadja wieder. Grauen erfüllte sie. »Nicht ihn, nicht ...« Sie verstummte
.
Das Bild der Dunklen Königin verschwand. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Nadja in fremde Augen, schwarz wie Ebenholz. Die Pupillen waren stark erweitert, der Blick sonderbar frivol, als erfreue den Mann, was er sah. Ihre Blicke begegneten einander. Macht und Gier griffen nach Nadja. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, und in ihren Gedanken dröhnte eine schmerzhaft intensive Stimme
.
Ich finde dich. Deine Seele wird mein
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