Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
lautbuchstäblich aufschreiben lassen. »Das müsste der genaue Wortlaut sein. Ich werde hierbleiben und dir helfen, es richtig zu lernen. Es ist wichtig, dass du die einzelnen Silben richtig aussprichst. Im Grunde ist diese Litanei ein Gesang. Auch die Tonhöhen sind wesentlich.«
»Ich soll singen?«
»Ja, du musst das singen.«
Nadja war nervös. »Okay. Ich schaffe das schon. Was machen Naburo und Torio? Es wundert mich, dass ich seit meiner Rückkehr noch gar nichts von ihnen gehört habe.«
Die Elfe senkte den Blick. »Torio hat uns letzte Nacht verlassen. Fünf der zwölf suchen gerade nach ihm. Sie halten ihn verständlicherweise für einen Spion der Tenna und haben uns heute Morgen verhört, ob wir wüssten, wo er ist. Wir konnten uns nur retten, indem wir uns von ihm lossagten und genauso empört über seine Flucht taten, wie sie es von uns erwarteten.«
Chiyo hatte kaum hörbar geflüstert.
Nadja unterdrückte einen zornigen Aufschrei. »Was?«, fragte sie so leise nach, wie es ihr möglich war, denn sie musste damit rechnen, belauscht zu werden.
»Naburo und er haben sich gestritten«, gab die Elfenprinzessin Auskunft. Ihre Augen sahen traurig aus. »Torio denkt, dass unser Feind zu mächtig ist. Außerdem sind wir es ihm nicht wert, für uns zu sterben. Vermutlich fürchtet er, dass wir ihn als Opfer benutzen, wenn es hart auf hart kommt. Im Grunde kann ich ihm das nicht einmal verdenken. Ich glaube, wir alle haben ihm unrecht getan. Und ich ... ich hätte ihm gerne noch gesagt ...« Sie hielt inne.
Verständnisvoll sah Nadja sie an. »Du magst ihn. Auch wenn deine Mutter ihn verstoßen hat.«
Chiyo nickte. »Ich könnte mir gut vorstellen, mit ihm hier in der Menschenwelt zu leben. Aber jetzt ist er fort. Ich muss wieder an den Hof zurück, unter die gestrengen Augen meiner Mutter ... Falls ...«
»Falls?«, hakte Nadja nach. Das dünne Textbuch in ihren Händen zitterte.
»Falls wir das hier überleben«, hauchte Chiyosana.
Nadja hatte die Prinzessin noch nie so mutlos gesehen. Wo war der starke Lebenswille der Elfe hin? Die natürliche Fröhlichkeit, die wie Sonnenlicht leuchtete? Sie packte Chiyos Hände.
»Wir schaffen das, auch ohne Torio. Schon heute Abend werden wir hier weg können. Ihr habt genug über die Feinde der Tenna herausgefunden, und auch ich werde erreichen, was ich erreichen wollte.«
Chiyo nickte. »Nadja ... egal wie alles ausgeht, es war großartig, dich kennenzulernen!« Sie fiel der jungen Frau um den Hals.
Nadja hielt sie verlegen fest und spürte Chiyos Wärme, roch den Duft von Pfirsichblüten, den die junge Prinzessin ausströmte.
Danach rissen sich beide zusammen und übten den Text. Die Stunden flogen dahin. Nadja wurde immer nervöser. Was, wenn sie die Silben falsch betonte? Wenn Tenji sie aufhielt? Sie hatte nur wenig Zeit, ihre Zeilen aufzusagen. Nach dem ursprünglichen Textbuch war sie ein Geist, der um Erlösung flehte und ein kurzes Gebet sprach. Nun war aus dem Gebet eine Anrufung der Sonnengöttin Amaterasu geworden. Wie lange würde Tenji brauchen, um das zu bemerken? Konnten Naburo und Chiyo ihn tatsächlich aufhalten, bis die Sonnengöttin in sie gefahren war und sie lenkte?
Es muss einfach klappen! Amaterasu muss unseren Ruf hören und kommen! Ohne ihr Machtwort sind wir verloren
.
Nadja war unkonzentriert und übermüdet, fühlte sich schwach. Manchmal musste sie noch an die Vision mit Talamh denken. Waren das nur ihre eigenen Ängste gewesen, die Tenji benutzt hatte? Oder plante die Dunkle Königin tatsächlich, ihren Sohn zu entführen?
Eins nach dem anderen! Erst werden die Zwillinge befreit, dann ... eilen wir nach Crain
.
Sie riss sich zusammen, atmete tief ein und ließ etwas von der Energie, die überall im Theater war, in sich einfließen. Sofort fühlte sie sich stärker.
Ich werde immer elfischer. Eines Tages wachsen mir noch lange Ohren
. Lächelnd strich sie sich die Haare zurück.
Also dann
.
Wieder und wieder rezitierte sie den Text, den Chiyo ihr gegeben hatte. Der Moment ihres Auftritts rückte näher. Ihr Lampenfieber steigerte sich ins Unermessliche. Es ging um so viel. An diesem Abend konnte sie alles gewinnen – oder alles verlieren.
Als Nadja am Abend aus ihrem Zimmer stakste, kam Tenji ihr entgegen und lächelte sie herausfordernd an. »Einmal bist du mir entkommen, doch heute Nacht nach dem Auftritt wirst du mein sein.«
»Das muss sich erst noch zeigen«, entgegnete Nadja kühl. »Ich habe es schon mit ganz
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