Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Schatten, und in einer Biegung der Wurzeln hatten sich besonders viele Pflanzenreste verfangen. Gleichzeitig öffnete sich hier ein Loch zum Fluss. Da das Gras und die abgefallenen Zweige das Wasser filterten, war es hier beinahe durchsichtig. Thymara kauerte sich so hin, dass ihr Schatten nicht aufs Wasser fiel, hielt ihren Speer bereit und wartete.
Sie brauchte einige Zeit, bis sie im Wasser etwas erkennen konnte, doch dann machte sie einen Schatten und vom Boden aufgewirbelten Schlamm aus, was auf einen Fisch hindeutete. Allmählich tat ihr die Schulter weh, weil sie den Speer die ganze Zeit einsatzbereit hielt. Bald schien er das Gewicht eines Baumstamms zu haben. Sie verdrängte den Schmerz und konzentrierte sich ganz darauf, die Wirbel im Wasser zu deuten. Das muss der Schwanz sein, also ist der Kopf hier, nein, zu spät, ist schon wieder unter der Wurzel verschwunden. Da kommt er, da kommt er, da kommt … Nein, unter der Wurzel. Da ist er, das ist ein Großer, warte, warte, und …
Sie warf den Speer nicht, sondern stach zu. Sie spürte, dass sie den Fisch getroffen hatte, und stieß kräftig zu, um ihn ans Flussbett zu nageln. Doch das Wasser war tiefer, als sie gedachte hatte, sodass sie sich plötzlich an der Wurzel festkrallen musste, um nicht hinabzustürzen, während der Fisch zuckend versuchte, sich von der Speerspitze zu befreien. Sie mühte sich, das Gleichgewicht zu halten und dabei den Fisch nicht zu verlieren.
Jemand packte sie von hinten.
»Lass mich los!«, brüllte sie, stieß den Speerschaft nach hinten und rammte, wen immer hinter ihr war. Sie hörte, wie jemandem die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Dann folgte ein unterdrückter Fluch. Sie drehte sich nicht um, denn durch den Aufprall wäre der Fisch beinahe von der Speerspitze gesprungen. Indem sie den Schaft gegen ihre Hüfte stemmte, hievte sie das vordere Ende aus dem Wasser. Sie war erstaunt, was für einen großen Fisch sie erwischt hatte. Durch sein wildes Zappeln trieb er die Spitze umso tiefer in seinen Leib. Thymaras Fang war beinahe halb so groß wie sie selbst, und er rutschte am Schaft entlang auf sie zu.
»Lass ihn nicht entkommen! Halte den Speer fest!«, rief Tats hinter ihr.
»Ich habe ihn«, knurrte sie. Es machte sie wütend, dass er glaubte, sie hätte seine Hilfe nötig. Ohne auf ihre Worte zu achten, fasste Tats über ihre Schulter und ergriff das vordere Ende des Speers. Nun hielten sie ihn gemeinsam, waagerecht, und der Fisch zappelte heftig. Mit der freien Hand zog Tats ein Messer und hieb dem Fisch mit dem Griff kräftig auf den Hinterkopf. Sofort erschlaffte das Tier. Thymara atmete erleichtert auf. Ihr war, als wäre ihr beinahe die Schulter ausgekugelt worden.
Ohne den Speer loszulassen, wandte sie sich um und wollte Tats danken. Erstaunt stellte sie fest, dass er nicht allein war. Der Freund der Bingtown-Frau saß auf einem Wurzelbuckel und hielt sich den Bauch. Bis auf die weiße Linie seiner zusammengepressten Lippen war sein Gesicht gerötet. Aus zusammengekniffenen Augen sah er sie an und sagte mit angestrengter Stimme: »Ich wollte dir helfen. Ich dachte, du fällst.«
»Was macht Ihr hier?«, fragte sie.
»Ich sah, dass er an der Stelle in den Wald ging, wo du verschwunden bist. Ich dachte, er stellt dir nach. Deshalb wollte ich sehen, was er vorhat.« Allerdings kam diese Antwort von Tats.
»Ich kann allein auf mich aufpassen«, erklärte sie ihm.
Tats ließ sich nicht beirren. »Das weiß ich. Ich habe mich auch nicht eingemischt, als du ihn mit dem Speer verprügelt hast. Ich habe nur mit dem Fisch geholfen, weil ich nicht wollte, dass er ausbüxt.«
Sie schnaubte ungeduldig und richtete den Blick auf den Fremden. »Warum seid Ihr mir gefolgt?« Grinsend fasste Tats den Speer zu beiden Seiten des Fischs. Thymara überließ ihm die Last, beobachtete aber genau, wie er den Fisch auf den verfilzten Wurzeln ablegte.
»Du hast so auf mich eingeschlagen, dass mir die Luft weggeblieben ist«, beschwerte sich der Fremde, und endlich gelang ihm ein etwas tieferer Atemzug. Allmählich löste er sich aus seiner gekrümmten Haltung und verlor die Röte im Gesicht. »Ich bin dir nur gefolgt, weil ich mit dir reden wollte. Ich habe dich bei der Drachin gesehen, für die Alise sich so interessiert. Ich wollte dich ein paar Dinge fragen.«
»Und was?« Ihr Erröten verriet sie. Wahrscheinlich glaubte er, sie wäre eine halbwilde Buschfrau aus der Regenwildnis. Womöglich hatte sie ihn falsch
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