Raine der Wagemutige
und sie schloss die Augen. Natürlich würde er kommen. Warum sollte er fernbleiben? Warum hätte sie glauben sollen, dass ausgerechnet jetzt gesunder Menschverstand irgendeinen Einfluss auf sein Handeln hätte und er erkennen würde, wie groß das Risiko für ihn war, hier entdeckt zu werden?
„Geh weg“, stieß sie aus und weigerte sich, ihn anzusehen.
„Ich habe dich gefragt, ob es hilft.“ Seine Stimme war gedämpft, aber sein Ton trotzdem heftig; er klang genauso rasend wütend wie vor zwei Tagen, als er entdeckt hatte, dass sie noch Jungfrau war. Doch da hatte er sie gehalten, als wäre sie das Allerkostbarste auf der Welt für ihn. Er hatte sie geliebt. Sie musste sich an dieses eine Gute in dem ganzen schrecklichen Durcheinander hier klammern. Sehnsüchtiges Verlangen erwachte, versuchte sich aus der dunklen, kalten Stelle, an der sie es in ihrem Innern vergraben hatte, an die Oberfläche zu kämpfen.
Sie hielt die Augen fest geschlossen und bemühte sich verzweifelt, nicht in Tränen auszubrechen. Die Hände ballte sie so fest zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel in ihre Haut gruben. Sie würde sich auf den Schmerz konzentrieren - aber wie sollte ihr das gelingen, wenn diese andere Qual die körperliche Pein so weit überstieg? Sie musste ihn fortschicken. Vor Muira hatte sie keine Träne vergossen, und sie würde es auch jetzt nicht tun, während er vor ihr stand.
Er wartete. Sie wappnete sich innerlich. Schließlich war sie eine gewiefte Lügnerin. Die beste, die das Kloster von Sacre Coeur je gesehen hatte. Sie öffnete die Augen. Er ragte bedrohlich über ihr auf, die geballten Hände rechts und links von ihr auf den Tisch gestützt. Die Beine gespreizt, so als mache er sich auf einen Kampf gefasst, stand er da.
„Helfen wobei?“ fragte sie, während sie sich verstohlen die geliebten Züge einzuprägen suchte - die bernsteinfarbenen Augen, sein von Bartstoppeln raues Kinn, seine breiten Schultern, seine Größe und Stärke - hungrig jede Kleinigkeit in seiner Erscheinung hortete, so dass sie sein Bild für ewig vor Augen hätte.
Sie machte sich keine Sorgen, dass sie je seine Berührung vergessen könnte. Die sehnige Kraft seiner Finger, die Wärme seines Mundes, seine Küsse, seine geflüsterten
Worte, die waren nun Teil von ihr. Sie würde sie genauso wenig vergessen, wie sie je vergessen würde, zu atmen.
Einen langen Moment starrten sie einander an.
„Stimmt es?“ fragte er schließlich.
Sie begann zu zittern. Sie hatte nicht mehr gezittert, seit Muira sie von dem Turm hierher zurückgebracht hatte, obwohl ihr die ganze Zeit so kalt war, so kalt, dass sie ernsthaft bezweifelte, ihr würde jemals wieder warm werden.
„Stimmt was?“ versuchte sie verzweifelt, das Unausweichliche aufzuschieben, benommen von dem Gin. Ah, ja! Gin. Das Versprechen des Vergessens. Sie griff nach dem Glas und hob es an die Lippen. Er packte ihr Handgelenk und zwang es auf den Tisch zurück. Die Flüssigkeit schwappte über und ergoss sich auf die Leinentischdecke.
Favor versuchte sich zu befreien. Um sie herum verstummte die Unterhaltung, und interessierte Blicke wurden ihnen zugeworfen.
„Hör auf!“ flüsterte sie heiser. „Der Lakai wird binnen einer Minute hier sein, wenn du so weitermachst!“
Sein Lächeln war wild und finster. „Lass ihn doch.“
„Nein, ich bitte dich“, sagte sie. „Du wirst nur entdeckt werden. Geh. Bitte!“
„Nicht, bevor du mir gesagt hast, ob es stimmt“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wirst du Carr heiraten?“
„Was für einen Unterschied macht es denn schon, wen ich heirate“, fragte sie gepresst und mit gesenkter Stimme. „Du weißt doch, ich war auf der Suche nach einem reichen Ehemann. Wer könnte geeigneter sein als Carr? Wer wäre reicher?“
„Du kleine Närrin“, erwiderte er mit wütend blitzenden Augen. „Du weißt gar nicht, was du da tust. Das kannst du nicht.“
„Warum bist du plötzlich der Vorstellung so abgetan, dass ich heirate?“ erkundigte sie sich bitter, unfähig die Worte zurückzuhalten. „Erinnerst du dich nicht? Du hast mir als Ersatz nichts zu bieten. Noch nicht einmal einen Namen. Oder sollte ich deinem Begehren einfach nachgeben, die carte blanche von dir annehmen und deine Mätresse werden?“
Er beugte sich vor. Sie konnte sehen, wie seine Arme vor mühsam beherrschter Anspannung bebten. „Wenn mir nicht schon längst ein Platz in der Hölle gewiss wäre, dann würde mir das sicher
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