Raine der Wagemutige
Gäste beleidigen kann. Darum bin ich hier, Mylord.“
Carr sah sich um und erbleichte. Wie befürchtet zeigte das Fenster hinter Gunna die aufgewühlte Nordsee. Irgendwie war er so in Gedanken gewesen, dass er falsch abgebogen und jetzt hier gelandet war und direkt auf die Klippen blickte, von denen Janet in den Tod gestürzt war.
In düsterer Vorahnung verspannten sich die Muskeln auf seinem Rücken, und seine Kopfhaut begann zu prickeln. Es war fast, als hätte Janet selbst ihn hierher geführt.
„Mylord?“ hörte er Gunna fragen.
Er unterdrückte ein Schaudern, hatte sich wieder völlig in der Gewalt und wandte seine Aufmerksamkeit der furchtsam zusammengekauerten Gestalt zu. Sein Stolz würde es ihm verbieten, irgendetwas, das auch nur entfernt Furcht ähnelte, vor einem so erbärmlichen Geschöpf zuzugeben.
Er eilte an ihr vorbei und schnaubte abfällig, als er an ihr vorüberging. „Für einen Menschen, der Schönheit so liebt wie ich, warum finde ich mich dann plötzlich von alten Vetteln umgeben?“
8. KAPITEL
Im vorderen Salon drängten sich knapp hundert Gäste. Carr setzte sein geübtes Lächeln auf, seine praktische Veranlagung hatte wieder die Oberhand gewonnen. Mit diesen verflixten Gespenstern konnte er schon fertig werden. Es war die Vorstellung, dass Janet tatsächlich zurückkehren könnte . . . Unsinn! Dummes Geschwätz einer alten Frau.
Er mischte sich unter die Menge, begrüßte seine Gäste im Vorübergehen. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass er gut die Hälfte von ihnen weder dem Namen nach noch vom Sehen kannte, oder dass sie auf seiner Türschwelle im Schlepptau derer erschienen, die eine der begehrten Einladungen erhalten hatten. Je mehr Wüstlinge und hemmungslose Spieler, desto besser.
Er goss sich ein Glas Portwein ein, leerte es in einem Zug und füllte es erneut, den schwachen Tee verschmähend, den er sonst vorzog. Er musterte die Gästeschar mit Kennerblick. Keine Männer, die hohe Einsätze liebten, waren heute Abend hier. Hauptsächlich mittelmäßige Wetter. Eine größere Anzahl Einfaltspinsel, ein oder zwei Falschspieler.
„Lord Carr!“
Carr hob zum Zeichen, dass er den hoch gewachsenen, auffällig dünnen Mann bemerkt hatte, der sich seinen Weg zu ihm bahnte, eine Augenbraue. Es war James Well, Lord Tunbridge, ein entfernter Cousin des Königs. Von Tunbridge hieß es, er sei für die Erziehung des Kronprinzen in puncto königlichen - und königlich sinnlichen - Zeitvertreibs zuständig. Eine sehr erfreuliche Entwicklung, wenn man bedachte, wie sehr er Tunbridge in seiner Gewalt hatte.
„Auf ein Wort, Sir“, erklärte Tunbridge atemlos, als er schließlich bei ihm angekommen war. „Ich ... Es ist wichtig. Sehr wichtig.“
„Wirklich?“ fragte Carr. „Für wen?“
„Nun, für mich.“ Ein leichter Schweißfilm erschien auf Tunbridges hoher Stirn.
Wie der Zufall so spielte, wollte der Mann etwas von ihm. Carr war nicht in der rechten Stimmung. „Später, Tunbridge. Meine Gäste . .."
„Eure Gäste werden warten, Lord Carr“, unterbrach ihn Tunbridge in unnachgiebigem Ton. „Bitte. Ich habe Euch manch guten Dienst erwiesen in den vergangenen Jahren, wie Ihr sehr wohl wisst, und jetzt bitte ich Euch lediglich um ein paar Minuten Eurer Zeit.“
„Stellt Ihr etwa Forderungen, Tunbridge?“ erkundigte sich Carr milde. „Wie überaus ärgerlich für mich und wie überaus gefährlich für Euch.“
Tunbrigde errötete, hob jedoch sein Kinn. Er würde abscheulich hartnäckig sein.
„Na gut“, gab Carr nach, nahm ihn beim Arm und zog Tunbridge durch die hohen Türen, die auf den Innenhof hinausführten.
Draußen hatte die Sonne den Himmel wieder zurückerobert, und der Wind hatte sich gelegt. Ein leichter Nebel stieg von den felsigen Abhängen auf, die sich vor der Burg nach unten erstreckten. Der Lärm des Festes drinnen mischte sich mit dem fernen Rauschen des Meeres.
„Nun, worum geht es, Tunbridge?“ Carr drehte sich zu dem hoch gewachsenen Mann um.
„Eure Tochter, Sir.“
„Was ist mit Fia?“ fragte Carr mit erwachendem Interesse. In letzter Zeit war seine Aufsehen erregende junge Tochter ein launisches Geschöpf geworden, in der einen Minute ein leichtfertiges Frauenzimmer, das ungehemmt drauflos flirtete, in der nächsten eine Sphinx, rätselhaft und kühl.
Ihre Einstellung zu ihm hatte sich im letzten Jahr eindeutig geändert. Früher war sie wie er gewesen, war ihm wie ein Schatten gefolgt, hatte seine Gesellschaft gesucht und
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