Rampensau
nur Che. Bertie war die Freundlichkeit in Person, seine Stimme klang so nervtötend süß, dass Kim einen Augenblick lang beinahe Mitleid mit Che hatte.
»Du hilfst weder dir noch mir, wenn du so unfreundlich zu mir bist«, beklagte sich das Wollschwein in einem melodiösen, ganz und gar unpassenden Tonfall. »Mit Freundlichkeit kommt man viel weiter – und wenn du ein Problem damit hast, dass ich nun zu euch gehöre, obwohl ich vielleicht ein wenig anders bin als ihr, dann sollten wir offen darüber sprechen.«
»Ich will nicht mit dir sprechen«, keifte Che. »Ich bin ein Protestschwein, ich bin dazu da, den Schweinen zu sagen, wie sie sich gegen die Willkür der Menschen wehren können. Schweine wie du machen mit ihrem freundlichen, konterrevolutionären Getue alles kaputt.«
»Aber Aggressionen sind niemals gut«, erwiderte Bertie noch freundlicher. »Hat meine liebe Mutter schon gesagt. Und …« Er zögerte und räusperte sich. »Ich wäre gerne dein Freund … Ich mag starke kräftige Eber, die wissen, was sie wollen … ich mag sie viel mehr als so blasse, schwächliche Wesen wie etwa Kim.«
Blasse, schwächliche Wesen wie etwa Kim! Dieses Wollknäuel hatte echt nur Flausen im Kopf. Am liebsten hätte sie Bertie auf der Stelle gesagt, was sie von so einem dümmlichen Gerede hielt, doch dann hätte wahrscheinlich sie und nicht mehr Che ihn am Hals gehabt.
Kim blieb stehen und überlegte, in den Wald zurückzukehren. Eine Nacht mit einem Schwätzer wie Bertie in einem Stall würde eine Tortur werden, aber im Wald wartete Lunke auf sie. Er hatte sie ausgetrickst. Am helllichten Tag hatte er sie mitten in den See gelockt, wo jeder sie hätte sehen können, ohne dass er wirklich etwas Bedeutsames mitzuteilen hatte. Ein Mann mit einem schwarzen Augengestell und kurzen weißen Haaren war irgendwann, als der Mond schon hoch am Himmel stand, aus dem Wald neben der Einfahrt gekommen und hatte den toten Schwan auf dem Pfosten drapiert. Dann war er wieder verschwunden. Großartige Beobachtung! Und dafür hatte sie sich in Lebensgefahr begeben – gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn einer der Polizisten vorbeigekommen wäre oder der Mann, der da irgendwo herumschlich, oder ein Jäger mit einem Gewehr, ein Schlächter mit einem Messer …
»Wollen wir nicht ein Spiel spielen?«, rief Brunst nun mit schriller Stimme auf der Wiese.
»O ja!«, quiekte Cecile sofort. Klar, dass sie auch in der Nähe war. Anscheinend wich sie Bertie nicht mehr von der Seite.
»Wir spielen Prügelei – jeder darf auf jeden einprügeln«, erklärte Brunst ohne jeden Hauch von Spott in der Stimme.
»Gewalt unter Schweinen ist eigentlich verboten«, wandte Che unschlüssig ein, »aber wenn ich so darüber nachdenke: Für jede Regel gibt es bekanntlich eine Ausnahme.«
»Prügeln finde ich ehrlich gesagt nicht so gut«, meldete sich Bertie wieder zu Wort. Seine Stimme troff vor Freundlichkeit. »Ich kenne ein anderes Spiel, das ich viel lieber mag: Ich sehe was, was du nicht siehst. Darf ich anfangen?«
Kim beschloss kehrtzumachen. Nichts konnte sie sich weniger vorstellen, als jetzt mit den anderen Schweinen zu streiten oder blödsinnige Spiele zu spielen. Plötzlich überfiel sie ein Gefühl von Einsamkeit. Sie war nur ein Schwein, sie konnte von Glück sagen, dass Dörthe sie gerettet hatte und sie nicht in einem Schlachthaus gelandet war – so wie ihre Mutter, die fette Paula, die ein hässlicher Transporter an einem nebligen Morgen abgeholt hatte –, und trotzdem musste ihr Leben doch einen tieferen Sinn haben. Waren eine Wiese, auf der kaum noch etwas wuchs, und ein Stall mit ein paar Strohhalmen alles, was sie sich vom Leben erhoffen durfte? Sollte sie einfach davonlaufen, in die Welt hinein? Lunke hatte ihr immerhin einiges beigebracht – etwa, wie man nachts durch das Dorf streifte, wie man sich vor Hunden in Acht nahm und Menschen aus dem Weg ging.
Kim schob sich tiefer ins Dickicht hinein. Hinter ihr waren die Stimmen der anderen nur noch entfernt zu hören. Brunst grunzte: »Nun habe ich aber genug«, und Bertie antwortete heiter: »Wahre Freunde können sich alles verzeihen.«
Nachdem Kim eine Tannenschonung durchquert hatte, war nichts mehr zu vernehmen. Würden die anderen sie suchen, falls sie nicht zurückkehrte? Oder würde Dörthe kommen? Wie es aussah, hatte Dörthe genug mit diesem undurchsichtigen Carlo zu tun, der sich bei ihr einquartiert hatte. Bestenfalls würde sie Edy losschicken.
Kim
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