Rampensau
Angst, aber sie hatte in den letzten Tagen zwei tote Menschen, einen toten Schwan und ein totes Schwein gesehen. Es könnte gefährlich werden, nach Dörthe zu suchen.
Nach etwa zwanzig Schweinslängen beschrieb der Zaun einen Bogen. Kleine Büsche wuchsen auf der anderen Seite. Durch die Zweige konnte sie auf ein großes rotes Tor blicken, das in das langgestreckte graue Gebäude führte, das allerdings geschlossen war. Von Menschen war nichts zu entdecken, und riechen konnte sie auch nichts mehr. Keine Zigaretten, kein Kaffee.
»Ich weiß nicht, wie du hier durch den Zaun kommen willst«, maulte Lunke. »Fliegen können Schweine ja nun mal leider nicht.«
Kim war erleichtert. Er hatte es doch nicht übers Herz gebracht, sie allein zu lassen.
Hinter dem langgestreckten Gebäude lag das Haus mit dem Ziegeldach. Es war viel kleiner, bestand aus groben roten Steinen. Auch hier waren die Fenster eingeschlagen, doch irgendwie meinte Kim eine Bewegung wahrzunehmen. Saß da jemand in dem Raum hinter der zerbrochenen Glasscheibe?
»Was hältst du davon, wenn wir heute Abend wiederkommen?« Lunke schob sich neben sie. »Wir ziehen uns zu einem Schläfchen zurück, suhlen uns dann im See, und danach laufen wir her und gucken nach, ob sich etwas getan hat.«
»Ich dachte, du hast Angst vor den fliegenden Mäusen, die hier abends umherflattern«, entgegnete Kim. Sie drückte sich ein wenig gegen den Zaun, schreckte aber sofort zurück, weil sich die Zinken tief und schmerzhaft in ihr Fleisch gruben.
Lunke antwortete nicht. Missmutig begann er in der Erde zu scharren und etwas Unverständliches vor sich hin zu murmeln.
Kim schaute sich weiter um. Nirgendwo war ein kaputtes Tor oder ein anderer Durchlass zu erkennen. Verdammt, sie brauchte eine Idee. Der Zaun war hoch und massiv; es würde nichts nützen, wenn Lunke sich dagegen werfen würde.
Bertie, dachte sie, wenn du irgendwo da hinter dem blauen Himmel bist – die Nacht mit den Sternschnuppen war wirklich schön, aber nun könnte ich deine Hilfe noch einmal gut gebrauchen.
»Weiß gar nicht, warum ich mich mit dir abgebe«, brummte Lunke vor sich hin. »Ich tue alles für dich, aber was machst du? Suchst irgendwelche Menschen und beachtest mich gar nicht … Weißt nicht zu schätzen, was ich alles für dich tue …« Er klang in höchstem Maße beleidigt.
Kim starrte auf das Loch, das er immer tiefer aushob, während er vor sich hin grummelte.
Plötzlich stieß sie einen hellen, freudigen Grunzer aus. »O wunderbarer Bertie!«, rief sie und eilte auf Lunke zu, um ihm über das Gesicht zu schlecken.
Abrupt hielt er inne und starrte sie aus geweiteten Augen an. »Was soll das nun schon wieder!«
»Du bist so klug«, sagte sie mit einem leicht spöttischen Unterton. »Klar, das ist die Lösung. Ein Loch graben – nur müsstest du es da vorne tun, direkt am Zaun, damit wir darunter durchkriechen können.«
Lunke blickte voller Erstaunen auf das Loch vor sich, dann auf seine Klauen, die nun wie festgefroren waren.
»Du meinst, ich soll am Zaun ein Loch graben?«
Kim lächelte. »Du sagst es, mein Lieber«, hauchte sie ihm zu.
Lunke grub, erst missmutig, dann schien es ihm sogar Spaß zu machen. Er sagte jedoch kein Wort dabei, verzog das Gesicht voller Konzentration und bedachte Kim mit keinem Blick.
Sie hob den Rüssel in den Wind. Sie roch auch hier Gräser, altes Öl und rostiges Metall. Davon schien es jenseits des Zauns eine Menge zu geben, aber nichts, was darauf hindeutete, dass sich hier kürzlich Menschen aufgehalten hatten. Hatte sie sich den Geruch von Kaffee und Zigaretten nur eingebildet?
Während Lunke immer weiter buddelte, legte sie sich vor den Zaun und blickte zu dem Haus hinüber. Plötzlich kam Dörthe heraus, aber sie war vollkommen verändert. Sie hatte immer noch leuchtend rote Haare, trug jedoch keine Kleider mehr, weil ihre Haut mit gelbem Fell überzogen war. Obwohl sie auf zwei Beinen ging, hatte sie sich in ein Wesen verwandelt, das Bertie ähnelte. Kim durchzuckte ein riesiger Schreck. War das eine dunkle Ahnung? Bedeutete das, Dörthe war auch tot, genau wie Bertie?
»He!« Lunke stieß sie an. »Ich mache hier die ganze Arbeit, und du legst dich hin und schläfst. Du hast sogar geschnarcht.«
Kim schreckte auf. Sie blickte zum Haus, aber da war niemand – nur eine graue Tür, an der die Farbe abgeblättert war, und ein kaputtes Fenster, hinter dem irgendein Schatten lauerte. Sie schüttelte den Kopf und spürte ihre
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