Raniels Engelwelt
die Augen weit offen und auch leicht verdreht. Er hoffte, einen Eindruck zu machen, der den anderen gefiel, und dann streckte er zitternd seine Hände nach dem Becher aus.
»Sehr schön!«, flüsterte Mona. »Und nun nimm den Becher.« Sie drückte ihn zwischen Bill’s Hände, damit diese ihn umfassen konnten.
Sie war zufrieden, und Bill gelang ein erster Blick auf den Inhalt des Gefäßes. Das Gebräu darin war so gut wie farblos. Vielleicht schimmerte es ein wenig gelblich.
»Es schmeckt wirklich gut. Und wer hat schon das Glück, sich vor dem Sterben noch einen letzten Drink gönnen zu können?«
»Das stimmt.«
»Eben. Außerdem wirkt das Gift sehr schnell. Wir wollen dich ja nicht lange quälen. Wir sind keine Unmenschen und...«
»Schon gut, ich will nichts mehr hören!«
Bill hob den Becher an. Das Zittern seiner Hände war nicht gespielt. Er stand wirklich unter einem wahnsinnigen Druck. Aber er bewegte nicht nur den Becher, sondern auch seine Augen, denn er wollte sehen, was Jason tat.
Die Mündung der Waffe hatte er von Bill’s Hals zurückgezogen. Er war auch etwas zur Seite getreten, um Bill bei seinem letzten Drink nicht zu stören.
»Sauf das Zeug endlich!«, zischte er ihm zu.
»Ja, schon gut.«
Bill musste den Becher noch mehr anheben. Er schielte auf Jason und sah seine Beretta in dessen Hosenbund stecken.
Auf einmal schleuderte Bill nicht nur den Becher in die Höhe, sondern auch die Flüssigkeit, die sich darin befand, und sie klatschte als Schwall in Jason’s Gesicht...
***
»Hallo, Raniel«, sagte ich. »So also sieht man sich wieder.«
Ich hörte sein Lachen, und wenig später gab er den Weg frei, damit wir das große Grab verlassen konnten. Die Frau hielt sich an meiner Seite. Sie war noch immer ziemlich von der Rolle. Ich hörte ihr hektisches Atmen, verließ die Grabstätte und trat in die helle Umgebung.
Raniel stand dort und wartete. Jeder, der ihn zum ersten Mal sah, war von ihm beeindruckt. Von seiner übergroßen Gestalt, von seinem markanten Gesicht und den dunklen Haaren, die bis in den Nacken fielen.
Seine Vergangenheit kannte ich. Auf die wollte ich jedoch nicht näher eingehen, um Pamela Parker nicht durcheinander zu bringen.
Außerdem ging es hier um andere Dinge, und genau die sprach ich an.
»So also ist das. Wir befinden uns in deiner Welt, und ich wundere mich darüber, wie sie aussieht.«
»Warum?«
Ich deutete auf die Pyramide. »Davon gibt es noch mehrere, wie ich sehen konnte, und mich würde interessieren, ob es sich dabei um Gräber handelt.«
»Das ist so, John.«
»Du hast sie errichtet?«
»Errichten lassen.«
»Und die Toten?«
Über seine Lippen huschte ein kaltes Lächeln. »Ich weiß natürlich, woran du denkst, John, aber du darfst nicht vergessen, dass meine Gesetze nicht die deinen sind. Was ich dort in den Pyramiden begraben habe, sind Kreaturen, die nichts anderes als den Tod verdienten. Sie durften nicht mehr am Leben bleiben, denn sie haben sich menschlichem Leben gegenüber schuldig gemacht. Ich habe letztendlich für die gerechte Strafe gesorgt. Du weißt, John, es ist meine Gerechtigkeit, an die ich glauben muss, und ich werde mich keinen anderen Zwängen unterwerfen.«
»Ja, das weiß ich.«
»Deshalb wünsche ich mir, dass du dich nicht in meine Angelegenheiten mischst.«
»Schon klar.«
Meine Gedanken irrten für einen Moment ab. Ich dachte daran, was ich schon alles mit ihm erlebt hatte. Man konnte ihn auch als einen gerechten – oder selbstgerechten – Henker bezeichnen, denn der Begriff »gerecht« gefiel mir in diesem Zusammenhang nicht.
»Sie alle haben also etwas getan, dass dir nicht passte, denke ich mir.«
»So war es. Und ich haben sie aus allen Ecken der Welt geholt. Ich kann natürlich nicht überall sein, es gibt einfach zu viel Grausames in der Welt der Sterblichen, aber wenn ich eingreifen kann, dann tue ich es.«
»Und woher stammen die Toten?«
Der Gerechte schaute für einen Moment nachdenklich auf den Griff des Schwerts, das er an der linken Seite trug. »Ich bin meist in den Teilen der Welt unterwegs, in denen die Ungerechtigkeit besonders groß sind. In den armen Länder versuche ich das Los der Unterdrückten etwas zu lindern. Ich habe mir so genannte Rebellenführer und deren Soldaten geholt, aber auch Kinderschänder, Vergewaltiger und Serienmörder.«
»Schaffst du alle hierher?«
»Nein, nur hin und wieder lege ich sie in diese Gräber, denn sie sind so etwas wie ein Beweis. Ein Beweis
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