Raphael
seine ganze Art so kalt ist? Oder gibt es vielleicht welche, die so sind, wie ich es mir seit meiner Kindheit erhoffe? Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Da sitze ich in einem stillgelegten U-Bahn-Tunnel fest, mit einem eiskalten Mörder, der mich ermorden will, und sinniere darüber, ob es von seiner Spezies vielleicht freundliche Exemplare gibt? Wen kümmert das? Selbst wenn es so wäre, ich werde keinen von ihnen kennenlernen, da ich vorher sterbe.
Auf was für verrückte Gedanken man kommt, wenn das Ende naht, es ist erstaunlich. Ich schätze, darin sind wir uns sogar ein klein wenig ähnlich. Er ist fasziniert von mir und ich bin es auf eine morbide Art und Weise auch von ihm.
„ Wie heißt du?“
Ich will wissen, wer mich töten wird. Keine Ahnung warum, aber es ist mir irgendwie wichtig. Seltsam.
„ Raphael. Mein Name ist Raphael.“
Chris schläft. Ich kann es noch immer nicht glauben. Er liegt tatsächlich nebenan im Gästezimmer und schläft tief und fest. Wie kann er schlafen, nach all dem, was er heute gehört und gesehen hat? Ich hatte erwartet, dass er, nachdem Setjan ihn aufweckte, eintausend und mehr Fragen stellen würde. Stattdessen hat er dessen Befehl, sich schlafen zu legen, ohne Wiederwort akzeptiert, weil Raphael und Setjan sich zuvor entschieden haben, diese Angelegenheit auf Morgenabend zu verschieben, um erst mal einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich begreife es trotzdem nicht. Kein Mensch nimmt es schweigend hin, wenn er völlig überraschend Vampiren gegenübersteht, schon gar nicht mein Bruder, der an den ganzen übersinnlichen Kram nie geglaubt hat.
„Hör endlich auf dir den Kopf zu zerbrechen, Caine, das macht mich wahnsinnig.“
Ich zucke ertappt zusammen, als Raphael sich neben mir umdreht. Dass ich die Nacht in seinem Bett schlafe, habe ich über meine Grübelei vergessen. Genauso wie meinen Hunger, der sich im dem Augenblick mit einem lauten Magenknurren zu Wort meldet.
Raphael richtet sich auf und sieht mit seinen grünen Augen ruhig auf mich hinunter. Ich weiß, was er von mir will und ich verachte ihn dafür. Gleichzeitig wird mein Blick wie magisch von seinem Hals angezogen, ich kann es nicht verhindern, dazu ist mein Hunger zu groß. Er legt den Kopf schräg, was meine Situation noch mal um einiges verfahrener macht, denn dieser untote Mistkerl weiß, wie verführerisch er für einen halbverhungerten Vampir wie mich gerade aussieht.
Es ist purer Trotz, der mich dazu bringt, meinen Blick von seinem Hals loszureißen und mich gänzlich von ihm abzuwenden. Was witzlos ist, wie Raphael sofort beweist, als er mit einer Hand meinen Kiefer umfasst und mich brutal zu sich dreht.
„Du kannst bei deinem Bruder übernachten, wenn dir das lieber ist, Caine“, murmelt er und lacht leise, als ich ihn anknurre. „So jung und so angriffslustig. Chris wäre begeistert.“
Raphael ist ein Schwein. Ich würde Chris in meinem Zustand anfallen und umbringen, und damit spielt er, um mich zur Aufgabe zu zwingen. Raphael liebt es, mir gegenüber immer wieder seine Überlegenheit deutlich zu machen, was mich allgemein nicht sonderlich stört, weil seine Stärke nun mal eine unabänderliche Tatsache ist. Doch hier und jetzt würde ich ihm dafür am liebsten den Hals umdrehen.
„Ich verabscheue dich.“
„Tust du nicht. Im Gegenteil, du brauchst mich. Viel mehr, als dir überhaupt bewusst ist“, widerspricht er und beugt sich dichter zu mir. „Bitte mich, Caine, sonst hast du gleich noch eine weitere Leiche zu entsorgen.“
„Du mieses Arschloch!“, fluche ich und versuche mich von ihm loszureißen, ohne Erfolg. Auch wenn er kleiner und schmächtiger ist als ich, Raphael hat den Vorteil des Alters auf seiner Seite. Ich habe keine Chance.
Wir landen kämpfend auf dem harten Boden und ein schmerzhaftes Stöhnen kommt mir über die Lippen, als Raphael meine Arme brutal nach oben zerrt, um sie über meinem Kopf mit den Händen festzuhalten. Dann knurrt er mich an und fletscht drohend die Zähne, weshalb ich den geplanten Versuch, ihn mit meiner Hüfte von mir herunterzuhebeln, lieber unterlasse. Das wäre zuviel des Guten, besonders nachdem, was ich mir heute Abend schon alles geleistet habe. Wut hin oder her, ich will am Leben bleiben.
„Letzte Gelegenheit, Kleiner.“
Raphael wird sich nicht wiederholen. Wenn ich jetzt nicht einlenke, wird er erst mich und danach Chris töten, ganz gleich, was er mit Setjan zuvor ausgemacht hat. Ich habe keine andere
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