Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
mich heimlich in die Umkleidekabine der örtlichen Ballettschule und klaute eines dieser Prima-Ballerina-Kleidchen.« Er schnäuzte sich erneut. »Zartrosa war es, mit jeder Menge aufgebauschtem Tüll.«
Ich musterte ihn skeptisch von der Seite. »Und? Hast du es je getragen?«
»O ja! Und ob ich das habe! Immer wenn mein Vater weg war, habe ich es aus dem Versteck geholt, angezogen und bin damit durchs Haus getanzt.« Seine Augen funkelten, während ein Hauch von Fröhlichkeit in sein Gesicht zurückkehrte. »Und dann habe ich mir Flügel gebastelt, ähnlich denen der Fee auf diesem Tuch, und gehofft, davonfliegen zu können.«
Ich blickte zur Uhr. »Du, Rich?«
»Ja?«
»Bist du noch da, wenn ich von der Arbeit komme?«
»Wozu?«
»Um mir deine Geschichte später weiterzuerzählen. Und um mein Entschuldigungs-Abendmahl anzunehmen. Ich bin eine schlechte beste Freundin, verzeih mir.«
»Du zahlst?«
»Nur, wenn du bleibst.«
»Okay. Aber nur noch diese eine Nacht. Erstens bekommt mir euer Sofa nicht, und zweitens verliere ich sonst meinen Job.«
Brömme ließ seinen Kaffeelöffel fallen, als er mich sah. Mein Haar war aufgestylt, und Richard hatte mir, nachdem er mich mit Allwetterhaarspray eingenebelt hatte, ein dezentes Make-up verpasst. Ich sah irgendwie befremdlich aus. Dennoch gefiel mir, wie ich aussah.
»Wie ich sehe, waren Sie beim Friseur, Frau Waldmann«, empfing mich Brömme.
»Ich hatte ja keine Wahl«, erwiderte ich keck.
»Eine Wahl hat man immer, Frau Waldmann. Sie müssen Ihrem Haar übrigens nicht nachtrauern, wenn ich das mal so sagen darf.« Dabei versuchte er zu schmunzeln. Ich konnte es kaum fassen. Brömme zeigte menschliche Züge. Nein! Männliche. Und dieser neue Brömme machte mir weitaus mehr Angst als der Alte.
»Schön, wenn Ihnen meine Frisur gefällt«, schmalzte ich zurück und verschwand in der Umkleidekabine des Schiffes.
Antonio saß auf der kleinen Holzbank vor den Spinden und schnürte seinen Schuh. Als er mich sah, grinste er.
»Was?«, fuhr ich ihn an.
»Ach nichts.«
Genau diese Art von Antworten hasste ich. Anstatt gar nichts zu sagen, kam er mir mit diesem Appetithäppchen von einer Auskunft. »Sag es einfach, oder hör auf zu grinsen.«
»Was sagen?«
Ich winkte ab. »Vergiss es!« Dabei dachte ich, dass nur Frauen sich blöd stellen können. Aber Antonio übertraf selbst Richard noch. Und der war ein wahrer Meister imzeitweiligen Drosseln seines Denkorgans. Nicht umsonst hatte Joe alle Wäschestücke jahrelang alleine gebügelt. Wahrscheinlich glaubte er immer noch, dass Richard unter einer Brenneisenphobie litt. Hatte er sich niemals gefragt, wie die hübschen Bühnen-Löckchen ins Haar kamen, die Richard so wundervoll zaubern konnte? Die Tür sprang auf, und Ortrud polterte mit Claudia im Schlepp hinein.
»Mach hin, wir sind spät dran«, sagte Ortrud im Befehlston.
Ich musterte sie, während ich in meine Uniform schlüpfte. Antonio hatte sich unterdessen mit einer Handvoll Parfümproben aufs Klo zurückgezogen. Claudia hämmerte an die Toilettentür. »Hör auf, die Luft zu verpesten.«
»Das ist Joop, das kann die Luft nicht verpesten.«
»Mir wird aber übel davon.«
»Dann solltest du weniger Prosecco mit Frauen abgeneigten Typen schlabbern.«
Ortrud knallte die Tür vom Spind zu. »Hört auf! Alle beide!«
Ich hatte die Befürchtung, dass ich der Auslöser ihrer schlechten Laune war, und zog es vor, nicht nach dem Grund zu fragen. Auch hatte ich wenig Lust, Antonio über sexuelle Ausrichtungen aufzuklären. Sollte er doch weiterhin in seinem moralisch-untadeligen Heiligtum verweilen, bis ihm eines Tages seine Enkelsöhne im BH und mit Lockenwicklern den Po abwischen würden. Mit einer korrekt sitzenden Kopfbedeckung und einem Schmunzeln im Gesicht ging ich an die Arbeit. Der Gedanke an Antonios erstarrtes runzeliges Gesicht war einfach zu köstlich.
Achtunddreißig Personen standen auf der Liste der Trauergäste. Ich blätterte mich durch die Unterlagen der Bestattungszeremonie. Eine halbstündige Ansprache, mitSegen des Pfarrers? Alfred Zapf hatte eine spendierfreudige Familie. Ich beäugte sein Foto, das in Schwarzweiß der Akte beigefügt war. Freundlich lächelte er mir entgegen, obwohl er eine Kriegsuniform trug. Seine Mütze hatte er leger nach hinten geschoben. Aufgestützt auf seiner Waffe, posierte er mit einem zotteligen Hütehund vor einem Eiswagen. Er schien ein mutiger Mensch gewesen zu sein. Brömme klapperte hinterm
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