Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Tratschtante, halt gefälligst die Klappe!«
»Autsch! Was soll das?«, wehrte er sich und kniff zurück.
»Hört schon auf und lasst sie in Ruhe«, mischte sich Ortrud ein. »Schlimm genug, dass Brömme sie fast gekündigt hätte.«
Richard wurde blass. »Echt?«
Ich nickte. »Letztendlich habe ich es diesem Zapf-Söhnchenzu verdanken, dass Pfaffenhof und Brömme mich nicht gefeuert haben.«
»Entschuldigt haben sie sich beim Sohn des Verstorbenen«, erklärte Claudia dem ahnungslosen Richard. »Mindestens zehn Mal. Und auch für das Missgeschick während der Bestattung.«
Richard wurde hellhörig. »Welches Missgeschick?«
Aber noch ehe sie von der herumfliegenden Totenasche berichten konnte, zerrte ich Richard am Arm zur Küchentür hinaus. »Komm jetzt! Das ist unser letzter gemeinsamer Abend auf Rügen.«
Ich wollte die letzten Stunden mit meinem besten Freund alleine verbringen. Ohne Störungen und dumme Kommentare. Der alte Fischereihafen war wie geschaffen dafür. Mit einer übergeworfenen Stola und den guten Stiefeletten aus der Theaterrequisite, die Richard mir mitgebracht hatte, schlenderten wir den kleinen Weg vom Haus entlang am Meer zum Hafen hinunter. Die Sonne ließ es sich an diesem hereinbrechenden Abend nicht nehmen, sich im allerschönsten Orange zu präsentieren. Wie eine Feuerkugel stand sie über der See. In der Ferne schrie eine Möwe und verkündete, dass sie kurz vor dem Fang ihres Lebens stand.
Richard blieb stehen. »Nun schau dir das an«, sagte er, auf den Seevogel zeigend.
Ich war ebenso fasziniert von dem übergroßen Fisch in ihrem Schnabel. Heftig schlug sie mit ihren Flügeln, um nicht zurück ins Wasser zu stürzen, während ihr Abendmahl nicht bereit war stillzuhalten. Der Fisch zappelte und schlug mit seiner Schwanzflosse so heftig, dass es die Möwe hin und her riss. »Ist das ein Hering?«, fragte ich, die Hand als Sonnenschutz über meine Augen haltend, um besser sehen zu können.
Richard presste die Hände in die Hüften und legte seine Nachdenkermiene auf. »Ein Hai ist es jedenfalls nicht«, mutmaßte er.
Ein Hai? Hier, am Strand von Rügen? Daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht. Und sofort fiel mir ein Horrorfilm ein, in dem ein monströser Hai bis unter einen Bootssteg schwamm, um sich dort einen der Füße auszusuchen, die wie Würste in einer Räucherkammer im Wasser baumelten. Ach ja, die Natur konnte schon grausam sein . Ich holte tief Luft und genoss das Spektakel, in das sich zunehmend andere Möwen einmischten. Lautstark rebellierten sie und forderten ein Stück vom Fisch, der wiederum immer noch um sein Leben kämpfte. Unter dem Geschrei der Vögel segelte ein kleines Boot der untergehenden Sonne entgegen. Zügig glitt es durch die überschwappenden Wellen. Moment mal, ist das dort ein Hai? Oder nur ein Schatten? Ich kniff meine Augen zusammen und fixierte die Stelle. Aber ohne Erfolg.
»Du, Rich? Denkst du echt, es gibt hier Haie?«
Er lachte. »Hör ich da etwa Angst aus deiner Frage?«
»Ich und Angst? Quatsch!«
»Na ja, möglich ist alles. Du weißt doch: Man hat schon Pferde vor Apotheken kotzen sehen.«
Stimmt! Im Grunde genommen konnte man sich auch nicht auf die Aussagen der Meteorologen verlassen. Weshalb sollte es dann auch keine Haie am Strand von Rügen geben? Haie! Fleischfressende Scheusale, aus deren Zähnen man Speerspitzen bauen konnte. Angeblich soll ihr Gehirn von der Größe einer Erbse sein, erzählte Sarah mal. Ich musste schmunzeln. Richard würde ein Hai wieder ausspucken. Ein schrill kreischender Mann, eingelegt in einer friesisch herben Duftwürze mit minziger Note, der selbst unter Wasser noch den sterbenden Schwan perfektpaddeln konnte, den würde garantiert kein Hai fressen. Nicht einmal der bösartigste aller Haie. Ich schmiegte mich an seinen Arm. Noch wenige Schritte, dann wären wir beim Hafenrestaurant. Ein bezauberndes kleines Fischlokal mit einem Verkaufsfenster und Strandkörben.
Sich einen Strandkorb zu teilen wäre denkbar. Immerhin sind die für zwei Personen gemacht. Oder für einen Jonathan Steinke – Dozent an unserer Schauspielschule. Ein Mann mit schwerem Charakter sozusagen, der sich tagtäglich in seinen Volkswagen presste, wie eine Wurst zwischen zwei Brötchenhälften, mit dem Ziel, zum fahrenden Hotdog zu werden. Und das alles nur aus reinem Idealismus. Warum ich das erwähne? Weil Richard nur ein Viertel von Jonathan Steinke wog, aber dennoch einen Strandkorb für sich alleine brauchte. Er
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