Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
freudig an. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Ich blickte in den Spiegel, um mich ebenfalls anzuschauen und mir wie jedes vorherige Jahr zu sagen: Mädchen, du bist keinen Tag älter geworden. Aber in diesem Jahr war es anders. Ich rückte noch näher an den Spiegel heran, bis meine Nasenspitze ihn berührte. Was ist das? Ich griff gezielt ins Haar und … Verdammt! Ich werde alt! Ein graues Haar, das wesentlich strohiger als die anderen schien, ruhte wehrlos zwischen meinen zwei Fingern. Ich beäugte es eine Weile. Dann redete ich mir ein, dass dies gewiss nur ein Einzelhaar ist, welches verirrt gewachsen war. Immerhin war ich ja noch mindestens zehn Jahrevon grauen Haaren entfernt. Gerade als sich meine Herzfrequenz wieder in den Bereich der Normalität einpendelte, entdeckte ich ein zweites. Ich riss auch dieses mitsamt der Wurzel aus und gestand mir: Der Zahn der Zeit nagt jetzt auch an dir, Rapunzel!
Etwas deprimiert schlich ich hinunter zur Küche, aus der mir Kaffeeduft entgegenstieg. Meine Güte, ich bin doch erst dreißig, überlegte ich verwundert. Gab es denn keine Zeitbegrenzung für graue Haare? Ich meine, mit vierzig ist das ja noch in Ordnung. Aber kurz nachdem man endlich die Pubertätspickelzeit überstanden hatte? Das war nicht fair! Und außerdem ein echt blödes Geschenk zum Dreißigsten. Vielen Dank auch, lieber Gott!
»Happy Birthday to you, happy Birthday to you, happy …«, sang Hendrik aufs Scheußlichste, sprang auf und half mir, Platz zu nehmen. Er hatte den Tisch hübsch gedeckt und eine Minitorte mit sage und schreibe dreißig kleinen Kerzen durchstochen. Ich konnte keine wachsfreie Stelle mehr entdecken, die annähernd essbar aussah. »Ach, wie süß«, lispelte ich lieblich, obwohl mir eher nach Wegrennen war. Dann blies ich die Kerzen aus und klatschte freudig in die Hände.
»Was hast du dir gewünscht?«, fragte er.
»Keine Überraschungen am Geburtstag«, sagte ich frei von der Leber weg. Immerhin hatte ich vor, mit Hendrik alt zu werden. Da musste er doch wissen, dass mich unvorhersehbare Dinge ängstigten. Und mit Partys war es wie mit Haien, sie versetzten mich sogar in Todesangst. Ich hasste es, wenn Menschen sich zu Gruppen zusammentaten, als seien sie magnetisierte Lebewesen, mit dem Ziel, gemeinsam vom selben Buffet zu essen oder im gleichen Rhythmus zu nicken. Pah! So was stank mir schon im Kinderheim gewaltig. Auch als mir Frau Dämon versicherte,dass Extrabratwürste von ihr keine Extras zu erwarten hätten, hatte mich das keineswegs zum Teamworker gemacht.
Hendrik seufzte. »Schade! Ich hatte da an was Romantisches gedacht.«
Okay, ich bin zwar kein Gruppen- und Gesellschaftsmensch, aber ich bin eine Frau, bei der die Neugierde quasi im zweiten X-Chromosom liegt. »Was denn?«, fragte ich und kuschelte mich in seinen Arm.
»Einen Ausflug mit dem Boot von Bjarne Klindworth vielleicht?«
»Aufs naturbelassene grüne Eiland rüber«, träumte ich weiter, laut vor mich hin.
»Wohin du willst«, säuselte mir Hendrik ins Ohr.
Bjarne war Bürgersprecher von Schabernack, dem Ort mit dem wohl dämlichsten Ortsnamen, wie ich fand. Er war zudem Vorsitzender der Rentnerinitiative »Die freien Alten« und kämpfte seit Jahren für eine Seniorenbegegnungsstätte mit altengerechten Spielgeräten. Er war ein feiner Kerl, auch wenn ihn niemand so wirklich ernst nahm. Wie auch? Wenn Bjarne Klindworth sich stets als Sprecher von Schabernack brüstete. Dennoch mochte ich seinen Idealismus und auch seine Frau, die sich rührend in ihrem Job um die Allgemeinbildung ahnungsloser Touristen sorgte und sich als Reiseführerin verdingte. Hendrik hatte irgendwann mal den Bernhardiner der beiden vorm Tode gerettet – Magendrehung, üble Sache. Seither waren sie Freunde, Hendrik und die Klindworths. Ich schloss die Augen und träumte mich auf die in der Ferne liegende grüne Erhebung, deren Fläche gerade mal ein Tausendstel von Rügen beträgt. Splitterfasernackt am Strand einer paradiesischen Insel zu lümmeln, das hatte was. Und es war reizvoll genug, um den furchtbarsten Geburtstag aller Geburtstage– weil mir mein Freund Richard fehlte – auf eine schöne Art hinter mich zu bringen, fernab von jeglichem Trubel.
Ich hatte mich extra in ein luftiges Strandkleid geworfen, die Flip-Flops vom Flohmarkt aus der Tüte für unnütze Käufe gekramt und mir Hendriks Strohhut aufgesetzt. Ich war bereit fürs Paradies. Hendrik ebenso, obwohl er in seinen kurzen Shorts eher wie ein
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