Rasheed, Leila
überrascht. Meine Schwester liebt das Klavier, aber ich konnte das Ende der Unterrichtsstunden immer kaum erwarten.« Sie lachte, und Rose fiel in ihr Lachen ein. »Aber wir müssen vorsichtig vorgehen. Wenn ich Ihnen zu üben erlaube, werden die Leute wissen wollen, warum, und peinliche Fragen stellen.« Sie drückte mit einem Finger gegen die Lippe und dachte nach. »Ich hab’s! Ganz einfach. Am Nachmittag werde ich so tun, als würde ich üben, und werde sagen, dass Sie mir dabei Gesellschaft leisten und Flickarbeiten machen. Aber nicht ich werde üben, sondern Sie. Und ich werde …«
»Flicken, Mylady?« Rose grinste.
»Ich glaube nicht!« Jetzt grinste auch Ada. »Nein, ich werde lernen.«
Rose sah sie halb bewundernd, halb überrascht an. »Dann ist es Ihnen wirklich ernst, Mylady? Mit der Universität?«
»Ich möchte wenigstens die Aufnahmeprüfung machen. Ob ich dann hingehe … bleibt abzuwarten.« Sie seufzte. »Das hängt von Papa ab.«
»Manchmal denke ich, es ist fast ein Glück, dass ich selbst keinen habe«, sagte Rose. »Keinen Vater, meine ich.«
Ada lächelte traurig, antwortete aber nicht. Es tat ihr im Herzen weh, ihren Vater zu hintergehen. Er und Georgie waren die einzigen Menschen auf der Welt, die sie liebte, ohne Wenn und Aber, ohne Angst, ohne Vorbehalt. Aber jetzt wünschte sie sich Dinge, mit denen ihr Vater niemals einverstanden wäre.
Rose setzte sich ans Klavier, schlug ein paar Töne an und ging dann zu einer Melodie über, einem Volkslied, das Ada vage bekannt vorkam.
»Sie haben nie Unterricht gehabt?«, fragte Ada nach einer Weile verwundert. »Aber wer hat Ihnen dann beigebracht, Akkorde zu spielen?«
»Niemand, Mylady. Das habe ich selbst herausgefunden – und ich habe einen Fernlehrgang gemacht, um Noten lesen zu lernen. Meine Mutter ist irischer Abstammung, und als ich klein war, gab es immer irgendwo Musik.« Sie seufzte und unterbrach ihr Spiel.
»Sie müssen das Dorf vermissen, in dem Sie aufgewachsen sind«, sagte Ada mitfühlend.
Rose zuckte mit den Achseln. »Das scheint alles so lange her, Mylady. Es kommt mir vor, als wäre es in einem anderen Land gewesen.«
Ada öffnete den Mund und wollte sagen, dass es ihr ganz genauso gehe, aber sie hatte keine Gelegenheit mehr, die Worte auszusprechen, denn plötzlich wurde sie von einem gewaltigen Geklirr erschreckt – das Fenster schien zu explodieren. Rose sprang mit einem Schrei vom Klavierhocker auf. Ada duckte sich. Als sie wieder aufsah, klaffte in der Fensterscheibe ein großes Loch, überall auf dem Klavier waren Glassplitter verstreut. Und mitten auf dem Klavierdeckel lag ein Cricketball.
»Was ist passiert?« Rose sah sich mit schreckgeweiteten Augen um. »Was um Himmels willen …?«
»Das müssen die Jungs gewesen sein.« Ada trat vorsichtig über die Glasscherben und spähte aus dem Loch in der Scheibe. Rose stellte sich neben sie. Drei erschrockene Gestalten starrten zu ihnen hoch: Philip, Michael und …
»Georgiana!«, schrie Ada.
Georgiana schlug sich die freie Hand vor den Mund – in der anderen hielt sie den Cricketschläger.
»Oh, das tut mir wahnsinnig leid!«, stöhnte sie.
»Georgiana!« Ada streckte den Kopf durch die Salontür. »Kann ich dich einen Moment sprechen?«
Georgiana legte ihr Buch beiseite. »Geht es um das Fenster? Papa hat mir heute schon einen Vortrag gehalten. Er hat gesagt, ich könne von Glück reden, dass er grundsätzlich gegen niemanden die Hand erhebt, denn sonst bekäme ich, genauso wie die Jungs, eine Tracht Prügel.« Ihre Stimme zitterte kläglich.
»Nein, du dummes Huhn. Das Fenster ist mir egal, obwohl ich glaube, du solltest dich lieber auf Dinge beschränken, die du kannst.« Ada lachte und schloss die Tür hinter sich. »Ausgerechnet Cricket! Was ist bloß in dich gefahren?« Georgiana machte den Mund auf, da unterbrach Ada sie schnell: »Sag nichts. Ich weiß schon, die Antwort beginnt mit M. Aber schau dir bitte mal das hier an und sag mir, was du davon hältst.«
Sie reichte Georgiana ein Blatt voller Notenlinien und Noten, die mit Bleistift geschrieben waren. Georgiana betrachtete es verwirrt und begann dann, die Melodie leise vom Blatt zu summen. »Das ist aber hübsch!«, rief sie schließlich. »Hast du das selbst geschrieben? Ich wusste, dass du ernsthaft übst, aber ich hatte keine Ahnung, dass du auch komponierst …«
»Tu ich auch nicht!« Ada sah sich verstohlen um, ob sie auch wirklich allein waren, und dämpfte die Stimme. »Kannst
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