Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
sich zusammenzureißen. Er sah sich den Kranken
an, der in diesem Moment ein Gerät in seiner Linken bediente, das seinen Oberkörper
in eine aufrechte Position brachte. Nun erkannte ihn Martin: Es war derselbe Mann
wie auf dem Schwarz-Weiß-Foto, nur viele Jahre älter und massiger. Er war der grinsende
Soldat in der Mitte seiner Kameraden. Der Nazi mit dem nach hinten gekämmten Haar,
die noch in der Fülle, aber ergraut vorhanden waren. Buschige Brauen über den finsteren,
schwarzen Augen, die noch funkelten. Obwohl der Greis im Bett lag, schien noch überaus
aktives Leben in ihm zu sein, zumindest in seinem Kopf. Dass dieser Schein trog,
ließ sich dank der transparenten Schläuche erahnen, die von einer Pumpe neben dem
Bett beinahe geräuschlos in Wegleiters Nasenlöcher führten. Hinter einer Gabelung
strömte durch zwei feine Röhrchen frischer Sauerstoff in seine Lungen.
»Was kann
ich für Sie tun?«, fragte er sachlich. Das Sprechen schien ihm keinerlei Mühe zu
bereiten. Nur ein feines Rasseln begleitete die Worte.
Werner übernahm
die Führung. »Herr Wegleiter, wir sind hier wegen der grausamen Morde, die derzeit
in Hamburg verübt werden. Sie werden davon gehört haben.«
Wegleiter
zuckte mit den Schultern und betrachtete die Beamten. »Na und? Was wollen Sie von mir ?«
»Nun, diese
Menschen haben vor zwei Jahren an einem Prozess teilgenommen. Die Opfer waren Leute,
die in einem Lebensbornheim zur Welt gekommen sind.« Der Alte nickte leicht. Werner
fuhr fort und pochte auf die Beantwortung seiner ersten Frage. »Haben Sie von diesen
Morden gehört?«
»Ich bin
zwar alt, aber nicht blöd. Stand unübersehbar in der Zeitung. Und? Jetzt sagen Sie
schon, was ich damit zu tun habe?« Wegleiter wurde ärgerlich und war seiner Frau
in einem offensichtlichen Punkt ähnlich. Er strahlte dieselbe widerliche Arroganz
aus, die Martins Blut zum Kochen brachte.
»Der Begriff
›Lebensborn‹ sagt Ihnen aber schon etwas, oder?«, fuhr Werner mit fester Stimme
fort.
»Nee, kenne
ich nicht. Was soll das sein?«
Werner schloss
das Sakko. »Herr Wegleiter, hören Sie auf mit den Spielchen. Wir sind nicht hier,
um uns von Ihnen für dumm verkaufen zu lassen. Sie waren bei der Waffen-SS und wissen
bestens über Himmlers Projekt Bescheid. Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen gern auf
die Sprünge.« Wegleiter hob die Brauen und wartete. Er schien sich für unantastbar
zu halten.
»Uneheliche
Kinder, die in Lebensbornheimen zur Welt kamen. Von der Außenwelt abgeschirmt. Arische
Kinder, von SS-Männern wie Ihnen gezeugt, um Nachschub für die Front zu produzieren.«
Wegleiter hob die Hand. »Na, von mir aus, aber Sie haben mir immer noch nicht verraten,
was Sie von mir wollen.«
»Wie viele
Kinder haben Sie, Herr Wegleiter?«
»Na, eines.
Meinen Sohn Hartmut. Der dürfte Ihnen ja wohl aus den Medien bekannt sein. Oder
lesen Bullen keine Zeitung?«
Erstaunlicherweise
blieb Werner selbst jetzt noch entspannt und kommentierte diese Beamtenbeleidigung
nicht. Martin hätte nicht so lange stillgehalten.
»Ihr Sohn
ist Politiker, ich weiß. Kurz vor den Wahlen. Sieht ganz gut aus für ihn, wie ich
gehört habe.«
»Na, wenn
Sie schon alles wissen, was fragen Sie dann noch?«
»Haben Sie
noch mehr Kinder aus einer anderen Beziehung? Flüchtige Affären, aus der Kinder
hervorgingen, die in einem Lebensbornheim zur Welt gekommen sind?«
Wegleiter
wurde zunehmend zorniger. »Herrgott, nein. Ich habe keine weiteren Kinder, weder
aus einer anderen Ehe noch, wie Sie mir zu unterstellen versuchen, aus einer Affäre.«
Werner hob
die Brauen. »Ach, Sie wissen gar nicht, dass Sie mehrfacher Vater sind? Aus unseren
Unterlagen geht hervor, dass Sie noch mindestens zwei weitere Kinder haben, die
1940 in Steinhöring bei München geboren worden sind.«
Wegleiter
erblasste. »Was für Unterlagen sollen das sein? Haben Sie sie dabei? Kann ich die
sehen?«
Werner lachte
auf. »Selbstverständlich haben wir sie nicht dabei. Aber glauben Sie mir, es gibt
sie.«
Martin hatte
Wegleiters Disput mit Spannung verfolgt. Er hielt die Luft an. Würde der Bluff funktionieren
und Wegleiter einknicken? Wie er den Alten bisher kennengelernt hatte, rechnete
er nicht damit. Er betrachtete den kranken Mann in dem Bett. Ein Mensch, der sich
für unantastbar hielt. Der in seinem langen Leben diverse Prozesse hinter sich gebracht
hatte, in denen es um Verbrechen an der Menschlichkeit ging. Um mehrfachen Mord
an unschuldigen Männern, Frauen und
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