Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
was?«
Pohlmann
nickte und bedachte Lorenz mit einem mitleidigen Blick. Der Mann war erst 63 und
doch wirkte er erschöpft und lebensmüde wie 83.
»Lesen Sie
die Akten zu dem Prozess gründlich durch. Da finden Sie die Antworten auf die meisten
Ihrer Fragen. Die anderen müssen Sie selbst beantworten. Ich gebe es nur ungern
zu, aber ich fühle mich dem Ganzen nicht mehr gewachsen.« Lorenz drehte sich zu
Pohlmann um und sah ihn mit einem flehenden Blick an. »Die ersten Tage werden hart
für Sie sein, doch wenn Sie sich erst eingearbeitet haben … Sie werden sehen …«
Lorenz brach den Satz ab und hustete schwer. Pohlmann trat vor. »Gehen Sie nach
Hause, Chef. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich häng mich da rein. Das wird schon
wieder.« Pohlmann meinte unbewusst damit den Gesundheitszustand seines Vorgesetzten.
Er hoffte es sehr, dass er wieder der Alte werden würde, und nicht nur, weil er
Schöller nicht mochte.
Kapitel 15
Spät am Abend, als alle Nachbarn
vor den Fernsehern saßen und kein Interesse an realen kriminellen Vorgängen hatten
außer an jenen, die sie gerade im ZDF verfolgten, kehrte ein groß gewachsener Mann
erschöpft und doch innerlich befriedigt nach Hause zurück. Er entledigte sich seiner
Kleidung, zog sich um und wärmte das Essen vom Vortag auf. Er nahm sich nicht viel
Zeit und Muße für sein lieblos gekochtes Gericht und setzte sich sogleich, nachdem
er ein paar Bissen verschlungen hatte, an einen Tisch. Es galt, die Erinnerungen,
solange sie noch frisch waren, niederzuschreiben. Er schaltete den Rechner an und
loggte sich ein.
Zweites Posting
U. S. umkrallte die Finger ihres
Mannes mit ihren fleischigen Händen. Sie zitterte leicht. Ich konnte alles durch
die Scheibe vom Flur aus sehen. Sie drückte die Krallen ihres Mannes so fest, als
müsse er spüren, wie lebendig sie noch sei, wie kräftig und voller Tatendrang. Drück
ruhig, das nützt dir nichts mehr,hab ich gedacht, als ich da stand.
Ihr Mann
rückte den Besucherstuhl zu ihr heran. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, also
ging ich rein. Zupfte am Laken herum, sagte nett Hallo, wischte hier und wischte
da.
»Mach dir
keine Sorgen, Schatz«, sagte ihr Mann. »Es ist nur eine Blinddarmoperation.«
Gestern
hatte U. Besuch von einer Freundin. Der hat sie die ganze Story erzählt. Im Grunde
sind die Leute dankbar, wenn sie krank sind, dann haben sie eine Menge zu erzählen
und kommen sich wichtig vor.
Sie hat
sehr leise gesprochen, aber das, was ich nicht mitbekommen konnte, habe ich in der
Krankenakte nachgelesen: Ihr Mann hatte sie drei Tage vorher mitten in der Nacht
mit Schmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. War mal ’ne Lehrerin. Hat man gleich
gemerkt. Wusste alles besser, als der Arzt sie untersuchte, auch noch mit 70. Typischer
Loslassschmerz auf der linken Bauchseite, tastbar trotz beträchtlichem Übergewicht.
Mann, als ich mir die Alte ansah, wurde mir echt schlecht. Die war so fett, dass
sie noch nicht mal Falten im Gesicht hatte. Die armen Gelenke. Was müssen die aushalten?
Na ja, dachte ich noch. Hast es ja bald geschafft. Am Abend vor ihrer OP kam sie
ihr Mann besuchen, also gestern. Ich hatte mein Mikro auf ihren Nachttisch gestellt.
Sah aus wie ihr eigener Wecker. Ich hörte alles mit, als ich mir ’nen Kaffee geholt
hab. Hat ja keiner geahnt, dass ich doch kein iPod im Ohr hab. War schon ziemlich
clever von mir. Mann, hat die Schiss gehabt.
»Alles wird
gut gehen«, ermutigte der Alte seine Frau. »Die Entzündung geht zurück und morgen
früh, eine Stunde nach der OP, wenn du wieder aufwachst, bist du den Übeltäter los
und 300 Gramm leichter.«
Ich lachte,
als ich das hörte. 300 Gramm weniger waren ja nicht gerade das erhoffte Ziel ihrer
dringend notwendigen Diät. Dann knackte es in der Leitung und ich kriegte nur noch
die Hälfte mit. Aber dann hörte ich sie wieder was sagen: »Es ist nur dieses komische
Gefühl.«
Tja, Frauen
und Gefühle. Ich konnte mir die Szene so richtig vorstellen. Todesahnungen. Sie
hat sich bestimmt ein wenig umgedreht und aus dem Krankenhausfenster geguckt, dorthin,
wo der dicke, rote Ahornbaum mit den letzten Blättern dran steht, die die gleiche
Farbe haben wie die Tönung ihrer Haare.
»Es ist
dieses Gefühl, dass etwas schiefgeht. Ich kann es nicht ändern. Man liest so viel…«
Tja, wie
recht sie hatte. Es geht so viel schief.
Dann wieder
ihr Alter: »Ach, Schatz, das ist doch ganz normal. Wer lässt sich schon gern operieren.
Klar gibt es
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