Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
damals
denjenigen von heute mehr als seelenverwandt waren, begriff im Augenblick noch niemand.
*
Es klopfte an der Tür, und Martin
erschrak, als hätte man ihn aus einem tiefen Schlaf aufgeweckt. Hektisch schlug
er die Akte zu und legte sie mit dem Rücken nach oben auf einen anderen, unscheinbar
wirkenden Haufen Unterlagen. Die anderen zwei Akten entnahm er ebenfalls und legte
sie zu der über Strocka. Er klappte das Geheimfach zu und eilte zur Tür. Ein junger
Mann, den Annegret als Pfleger Lars Dräger vorgestellt hatte, stand in der Tür.
Er trug einen blauen Kittel, und das Schild, auf dem sein Name stand, hing schief,
sodass man es nur mit Mühe lesen konnte. Es interessierte niemanden, was dort stand.
Jedermann kannte ihn. Die Schilder wurden aus Gründen des Qualitätsmanagements getragen.
Wie viel Sinn dies in einer Einrichtung wie dieser machte, wurde nicht hinterfragt.
»Ja, bitte?«,
fragte Pohlmann konsterniert, als stünde er am Sonntagmorgen im Bademantel an seiner
Wohnungstür und hätte den Zeugen Jehovas geöffnet.
»Ich sah
Licht und die Tür war verschlossen, da dachte ich, ich seh mal nach. Und Sie sind
…?«
»Pohlmann.
Kripo Hamburg.«
»Aha«, entgegnete
Dräger und versuchte, an Pohlmann vorbei ins Büro zu schielen. »Und was machen Sie
hier? Die Kripo war doch schon da und hat sich alles angesehen. Haben Sie einen
Ausweis?« Martin kannte diese Frage, die die Leute als Erstes aus dem Register zogen,
wenn sie einem Menschen nicht ansahen, dass er ein Beamter war. Im Falle von Martin
Pohlmann glaubte es niemand auf Anhieb.
»Klar.«
Martin zog seine Papiere hervor, hielt sie dem jungen Mann zwei Sekunden vor die
Augen und steckte sie sofort wieder weg. Pohlmanns Miene blieb unbeweglich. Er dachte
an das, was er zu diesem Typen abgespeichert hatte: Lars Dräger, Pfleger seit sechs
Jahren, der angeblich aus echter Berufung hier arbeitete, von dem Emmi behauptete,
er würde sie nicht mögen und ihr den Tod an den Hals wünschen. Wie viel von dem
zu glauben war, konnte er nicht beurteilen.
»Was kann
ich noch für Sie tun?«, fragte Martin den Pfleger, als dieser keinerlei Anstalten
machte zu gehen.
»Nichts.
Ich frage mich nur, was Sie hier machen. Ist das üblich, dass man sich einschließt,
wenn man rumschnüffelt?«
»Klar, warum
nicht? Ich darf hier alles! Ich bin von der Polizei, schon vergessen? Außerdem laufen
auf diesen Fluren eine Menge Typen rum, von denen ich mich nicht bei der Arbeit
stören lassen möchte.«
»Sie sprechen
von unseren Patienten. Das sind Patienten«, erwiderte Dräger pikiert.
»Hören Sie
zu, Herr Dräger. Ich bin sowieso schon fertig. Zerbrechen Sie sich nicht meinen
Kopf, okay? Ich nehme meine Unterlagen mit und bin dann weg.« Martin ging ins Büro
zurück, schnappte sich die drei alten Papiere, klemmte sie sich unter den Arm und
sah Dräger barsch an. Offiziell hätte er eine Genehmigung gebraucht, diese Akten
mitzunehmen. Er hoffte, diesen Umstand durch einen strengen Blick ausgleichen zu
können. Was verstand dieser Bursche schon von polizeilichen Bestimmungen? Die Leute
wissen nur Halbwahrheiten, die sie aus Filmen und Romanen kennen, dachte Martin
und strebte an Dräger vorbei. Kurz nachdem Martin ihn passiert hatte, fiel ihm noch
eine Frage ein, die er an den jungen Mann richten wollte. »Sagen Sie, arbeiten Sie
eigentlich immer hier? Jeden Tag, die ganze Woche?«
Dräger nickte
und presste die Lippen aufeinander. »Klar, immer. Nur nicht, wenn ich Urlaub hab.
Ist doch klar.« Pohlmann genügte die Antwort fürs Erste, doch seine innere Stimme
meldete sich zu Wort. Irgendetwas an diesem Pfleger stimmte nicht, passte nicht
zusammen, doch was es war, konnte Martin nicht sagen. Er würde ihn im Auge behalten.
Doch erst mal nach Hause, mit einem Erkältungsbad in die Wanne und dann ins Bett.
Kapitel 30
Hamburg, 8. November 2010
Bereits den zweiten Tag war Pohlmann
mit dem BMW von Schöller unterwegs und könnte sich sicher daran gewöhnen, nie wieder
zwölf Jahre alte VW-Passats fahren zu müssen. Dass dies eine Illusion war, ahnte
Pohlmann mit jedem Kilometer, den er zurücklegte.
Zu Hause
angekommen, legte Martin die Nazi-Akten und die Personalakte Drägers auf die Kommode
im Eingangsbereich, ging unverzüglich ins Bad und ließ heißes Wasser ein. Er hoffte
sehnlichst, die sich in alle Nebenhöhlen ausbreitende Erkältung mit einer Überdosis
ätherischer Öle zurückdrängen zu können. Die Küche, in der er sich ein
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