Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
nicht,
dass man sie danach fragen kann, oder weißt du noch was aus der Zeit, als du vier
warst?«
Hartleib
schüttelte den Kopf.
»Siehst
du. Ich auch nicht. Na, egal. Ich möchte mir auch nicht vorstellen, was man alles
mit ihr angestellt hat.«
»Hat sie
nicht ein Buch geschrieben?«
»Doch klar,
diese dicke Kladde. Ich hab sie halb durch. Das ist das Verrückte, sie schreibt
echt gut. Wenn man die Frau sieht, ahnt man gar nicht, was in ihr steckt. Rein äußerlich
und noch dazu in dieser Umgebung … Aber wenn du dieses Buch aufschlägst, findest
du darin Poesie und wunderschöne Prosa. Sie schreibt Gedichte und Episoden wie aus
dem Leben eines anderen, aber ich glaube, sie meint immer sich selbst. In einem
Gedicht ist davon die Rede, dass sie sich versteckt, dass alle anderen gemocht werden,
nur sie nicht. Nach all dem, was ich über Frau Braun mittlerweile weiß, hat die
garantiert keine leichte Kindheit gehabt. Und obendrein ist sie die Tochter eines
Scheißnazis, der bestimmt ein paar Morde auf dem Gewissen hat.«
»Drei Akten.
Eine von diesem Strocka. Wer sind die anderen beiden?«
»Der eine
hieß Franz Wegleiter und der andere war ein Dr. Richard Fürst. Arzt oder so.« Pohlmann
nahm die zwei Akten der Nazis hervor und schlug die eine auf.
»Was haben
die drei miteinander zu tun? Und was haben sie mit unserem Fall zu tun?«
»Bisher
hab ich nur Vermutungen«, bemerkte Martin. »Ich habe vorhin die Akten überflogen.
Wegleiter war im Krieg ein Hauptsturmführer wie Strocka. Es gibt Fotos von ihm in
Uniform. Hier, sieh mal.« Martin reichte Werner die Akte, in die vier Fotos eingeklebt
waren. Auf dreien waren Soldaten zu sehen, die in einer Reihe standen und sich die
Arme um die Schultern legten. Das vierte Foto zeigte Wegleiter vor einem Ortsschild
mit dem italienischen Namen Carrara. Martin blätterte die Seiten
durch und fand den Eintrag, auf den er gehofft hatte.
»Hier steht,
dass Wegleiter ebenfalls Zeugungshelfer in Steinhöring war. Hier ist eine Notiz:
Franz Wegleiter Vater von … Der untere Teil der Seite ist abgerissen.« Dort, wo
einer oder mehrere Namen hätten stehen sollen, war nur noch gähnende Leere. Jemand
war ihnen zuvorgekommen und hatte die wichtigste Notiz entfernt.
»Sieh mal
in der anderen Akte nach«, forderte Werner Martin auf. Der legte die Akte Wegleiter
beiseite und nahm die von Dr. Richard Fürst zur Hand. Martin begann zu lesen, überflog
die unwichtigen Daten wie Geburtsdatum und -ort und murmelte das Gelesene vor sich
hin.
»Ah, hier
kommt es. Studium der Medizin in München von 1938 bis 1943. Approbation. Mitglied
der SS. Dissertation bei Professor Kranitz. Versetzung nach …« Pohlmann stockte.
»Ach, schau mal an. Rate mal, wohin unser reizender Arzt versetzt wurde.«
Hartleib
zuckte mit den Schultern.
»Nach Lüneburg
in die Kinderfachabteilung. Dorthin, wohin auch Emilie Braun gebracht wurde. Das
kann alles Zufall sein, aber denkbar ist, dass Strocka, Wegleiter und Fürst so etwas
wie Jugendfreunde waren oder sich zumindest schon länger gekannt hatten. Die Tochter
von Strocka kommt nach Lüneburg und Fürst arbeitet dort als Arzt. Stell dir vor,
ein SS-Mann zeugt ein Kind, das als schwachsinnig erklärt wird, und ein anderer
SS-Mann findet es heraus. Was passiert dann mit dem Vater? Behält er seine hohe
Position? Fängt man nicht an, in dessen Vergangenheit nach erblichem Schwachsinn
oder anderen Erbkrankheiten zu suchen? Ist man nicht geneigt, die arische Blutlinie
lückenlos zurückzuverfolgen? Also, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, war
es für einen SS-Mann so ziemlich das Schlimmste, was ihm in seiner Karriere passieren
konnte, wenn er ein behindertes Kind gezeugt hatte. Meistens wurde der Betreffende
seiner Ämter enthoben und das Kind der Euthanasie zugeführt. Aktion T4 hieß das,
glaube ich, zumindest bis 1941.«
»Stopp,
warte mal. Nicht so schnell. Das Kind, das in Lüneburg eingeliefert wurde, hieß
Emilie Braun und nicht Hedwig Strocka.«
»Eben. Genau
deswegen hat sie ja eine neue Identität bekommen. Möglich ist trotzdem, dass Fürst
Nachforschungen angestellt und herausgefunden hat, wer Emilie Braun wirklich war,
und dann spätestens wusste er, dass sein alter Freund Gerhard ein behindertes Kind
unterschlagen hat, und er musste sich fragen, warum er dies getan hat. Vielleicht,
weil er eben selbst doch nicht rein arischer Herkunft war und innerhalb des engen
Dunstkreises von Himmler seinen Job verloren hätte, wenn nicht sogar
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