Raue See
Zucker-und-Milch-Arrangement, auf dem der Aufkleber »Alessi« prangte, auf den Wohnzimmertisch.
Ich bin doch spießig geworden, dachte sie. Früher war ich unordentlich, es gab sogar Menschen, die mich als Schlampe bezeichneten. Und jetzt? Jetzt muss alles seine Ordnung haben. Ob es damit zusammenhängt, dass mich mein letzter großer Fall fast das Leben gekostet hat? Oder wird man so, wenn man Mutter wird?
Sie nahm Zielkow gegenüber auf dem Sofa Platz. Der rutschte sichtlich nervös auf dem weißen Leder des Klubsessels hin und her.
»Was führt Sie zu mir?«, fragte sie. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er gekommen war, um sich nach dem Befinden der Leiterin der Mordkommission im Erziehungsurlaub zu erkundigen.
Zielkow druckste zuerst herum und kam dann unvermittelt zur Sache: »Sie müssen zurück in den Dienst.«
Wiebke spuckte den Kaffee, den sie gerade im Mund hatte, zurück in die Tasse.
»Was? Wieso? Ich bin im Erziehungsurlaub«, stammelte sie. Natürlich langweilte sie sich gelegentlich. Und sie ärgerte sich über die vielen Mütter, denen sie nicht entgehen konnte, die ihr allen Ernstes weismachen wollten, dass es nichts Erfüllenderes gab, als sich den ganzen lieben langen Tag um den Nachwuchs zu kümmern. Aber in den Dienst zurückzukehren, war im Moment unmöglich. Einen Kitaplatz bekam sie erst, wenn Jonas mindestens ein Jahr alt war. Außerdem wollten sie und Günter ihn ja auch gar nicht früher weggeben. Wobei … Sie war inzwischen nicht mehr nur eine stillende Mutter im Erziehungsurlaub, sondern auch alleinerziehend. Außerdem war sie schließlich Beamtin.
Zielkow schien ihre Gedanken lesen zu können. »Ich mache das nicht aus Jux und Tollerei, das können Sie mir glauben. Ich weiß, dass Sie einen gesetzlichen Anspruch haben. Aber«, seine Stimme nahm etwas Theatralisches an, »es geht um Leben und Tod.«
Wiebke lachte kurz und trocken. »Mal ehrlich, Chef: Ich bin Leiterin der Mordkommission. Unsere Opfer sind schon tot, wenn wir ins Spiel kommen. Und da Mord bekanntlich nicht verjährt, kann ich die Täter auch dann noch einbuchten, wenn der Kleine in der Kita und gut versorgt ist.«
»Diesmal ist es anders«, hörte sie ihn sagen und sah, wie er in seiner Aktenmappe wühlte. Er holte zwei DIN - A 4-Bogen heraus und reichte sie ihr. Als sie die beiden Gedichte las, wurde sie merklich nachdenklich.
»Die Sendungen erreichten uns im Abstand von genau zwei Wochen«, sagte Zielkow. »Und zwei Frauen sind bereits tot. Sie wurden fristgerecht ermordet, könnte man sagen.«
»Wer sind denn die beiden Toten?«, wollte Wiebke wissen.
»Wir haben bisher noch nicht einmal die Leichen«, wehrte Zielkow ab. »Geschweige denn eine Ahnung, welche Identität die Opfer haben.«
»Und woher wissen wir, dass sie tot sind?«, fragte sie und tadelte sich insgeheim, dass sie »wir« und nicht »ihr« gesagt hatte.
»Haben Sie einen DVD -Player, Frau Menn?«
»Natürlich«, sagte Wiebke und deutete zur Wohnzimmerwand. »Unter dem Fernseher.«
Zielkow stand auf und hantierte mit den Geräten und Fernbedienungen herum. Er schonte sie nicht. Er zeigte ihr beide Filme. Danach herrschte minutenlanges Schweigen.
»Wollen Sie denn nicht versuchen zu helfen, den ›dritten Streich‹, den der Täter ankündigt, zu verhindern? Können Sie das verantworten?«
»Natürlich nicht«, entgegnete sie prompt und fügte stotternd hinzu: »Aber ich weiß doch auch nicht. Und außerdem … Was ist mit Jonas? Wie soll das gehen? Ich kann den Kleinen ja schlecht mit ins Präsidium nehmen?«
»Das stimmt. Ich habe deswegen bereits mit dem Innenminister gesprochen«, informierte er sie. »Ihr Mann wird bis auf Weiteres freigestellt. Bei vollen Bezügen. Sie werden selbstverständlich auch bezahlt. Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, sagte der Minister.«
Wieder lachte Wiebke kurz und trocken. »Das geht aber nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil mein Mann und ich uns getrennt haben. Ich bin alleinerziehend.«
»Scheiße«, entfuhr es Zielkow. »Entschuldigung.«
»Außergewöhnliche Situationen rechtfertigen außergewöhnliche Ausdrücke«, sagte Wiebke.
»Kann er sich nicht trotzdem um ihn kümmern?«
»Ich weiß doch noch nicht einmal, wo er jetzt wohnt.«
»Aber seine Handynummer haben Sie noch?«
Wiebke nickte und diktierte sie Zielkow, der die Nummer in sein Mobilfunkgerät eingab.
»Hallo, Herr Oberstaatsanwalt«, hörte sie ihn sagen. »Eberhard Zielkow
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