Raum in der Herberge
denn diese Aussage — weiblich formuliert — war
sonst nur besonders liebreizenden Pilgerinnen vorbehalten.
Zwei
solche klopften einige Abende später an der Haustüre. Es war schon weit nach
acht, die Herberge längst voll, inklusive Notquartier auf dem Treppenabsatz.
Aber nun waren noch Nachzügler angekommen — zwei kleine Österreicherinnen,
denen die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand.
„Wo
kommt ihr denn derart spät noch her?“, fragte ich die Mädchen.
„Aus
Logroño“, — was rund 50 Kilometer entfernt war —, „und wir können jetzt
wirklich nicht mehr weiter. Die Pfarrherberge ist auch schon voll.“
Da
standen sie mit ihren sonnenbrand-geröteten Stupsnasen und Schultern und sahen
mich aus großen, hilflos geweiteten Augen bittend an — und ich konnte mit einem
Mal einfach nicht anders, als innerlich gleich über ein ganzes Spalier von
Schatten zu springen.
„Wartet
einen Moment“, sagte ich, ging zu Roland und zog ihn beiseite.
„Wir
haben da einen echten Notfall“, suchte ich ihn für meinen Vorschlag einzustimmen,
„zwei Mädchen, die bis von Logroño hierher gelaufen sind und jetzt einfach
nicht mehr weiter können. Im Ort ist alles voll. Was meinst du, könnte ich
ausnahmsweise bei dir im Zimmer schlafen, du hast doch zwei separate Betten?
Dann könnten wir den beiden Mädchen mein Zimmer geben“
Roland
machte keine dumme Bemerkung und ließ keinen flapsigen Spruch los, zog vielmehr
eine anerkennende Grimasse. „Das finde ich ja richtig edel von dir, dass du
denen dein Bett abtreten willst. Von mir aus geht das in Ordnung.“ Die
Österreicherinnen konnten ihr Glück kaum fassen, nicht nur doch noch einen
Schlafplatz zu bekommen, sondern sogar ein schönes eigenes Zimmer. Erst recht
dankbar waren sie, als ihnen aufging, dass Roland und ich keineswegs ein Paar
waren, sondern nur extra für sie zusammenrückten. „Manchmal trifft man Engel
auf Erden“, schrieben sie ins Gästebuch der Herberge, „heute haben wir gleich
zwei getroffen.“ Ich fühlte mich geschmeichelt, das zu lesen, und war zugleich
ein wenig peinlich berührt. Was war denn da in mich gefahren, Gutmenschsein
gehörte doch sonst nicht unbedingt zu meinem Standard-Repertoire? Aber
vielleicht war Altruismus genau eine der Lektionen, die ich als Hospitalera am
Camino lernen sollte.
Mein
Abschied von Azofra rückte unweigerlich näher.
„Ich
habe mich so an deine Mitarbeit gewöhnt, ich weiß gar nicht, wie ich wieder
ohne dich klarkommen soll“, klagte Roland.
„Das
schaffst du schon, vorher ging es doch auch ohne mich.“
„Ja,
aber du hast die Latte für künftige Hospitaleras verdammt hoch gelegt.“ Ein
Lob, das mich freute, schließlich hatte ich mir Mühe gegeben, versucht, zu
jedermann gleichermaßen nett zu sein — was nicht immer einfach war —, nicht die
Geduld zu verlieren (auch mit Roland nicht) und mich herauszuhalten aus den Fallstricken
der dörflichen Strukturen.
Aber
hatte ich während meiner Zeit in Azofra auch mehr von der Magie des Camino
ergründet, wie ich es mit vorgenommen hatte? Nicht wirklich — oder vielleicht
doch und ich würde es erst später merken.
Es
tat mir jedenfalls Leid wegzufahren, denn ich hatte mich hier heimisch gefühlt.
Ich würde die „Frauengespräche“, wie Roland sie nannte, mit Begoña vermissen,
die Kaffeepausen mit ihr bei Keksen und Schokolade, die drolligen
pantomimischen Unterhaltungen mit Enrique, meine Wanderungen durch das weite
Land.
Aber
es half nichts — ich wurde bereits anderswo erwartet. Ich suchte mir einen Zug
nach Ponferrada aus, der nächstgelegenen Bahnstation zu Molinaseca, und rief
Alfredo an, um ihm meine Ankunftszeit mitzuteilen.
„Mein
Freund Ravi wird dich abholen und zur Herberge
bringen. Wie siehst du aus?“
„Ich
bin groß, blond und habe lange Haare.“
„Gut. Ravi ist groß, dunkel und hat kaum noch Haare. Ihr
werdet euch schon finden.“
Roland
ließ an meinem Abschiedstag die Herberge geschlossen, um mich persönlich nach
Miranda zu fahren. In der Bahnhofskneipe tranken wir einen letzten Kaffee
miteinander, dann kam der Zug, Roland wuchtete meinen Rucksack hinein und
winkte mir mit wehmütigem Lächeln hinterher, bis ich außer Sichtweite war.
Ich
seufzte, lehnte mich in meinen Sitz zurück und versuchte, mich innerlich aus
Azofra auszuklinken und auf Molinaseca einzustimmen — ein neuer Ort, eine neue
Herberge und vielleicht ganz neue Erfahrungen.
Liebe und andere
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