Raum in der Herberge
Herberge aufzuschließen, saßen dort
bereits zwei junge deutsche Frauen und machten Brotzeit. Sie waren beide sehr
hübsch, was sie durch geschicktes Make-up betonten und ich fragte mich, ob sie
das jetzt eben, während sie warteten, aufgetragen hatten oder ob sie
tatsächlich in voller Kriegsbemalung übers Gebirge gewandert waren.
Wahrscheinlich letzteres, denn nachdem sie geduscht hatten, tauchten sie noch
sorgfältiger geschminkt wieder auf. Kurz nach ihnen war ein junger Amerikaner
angekommen, Cody aus Idaho, vielleicht gerade mal zwanzig, groß und gut
aussehend, mit verträumten blauen Augen hinter einer
Intellektuellen-Hornbrille. Die beiden Deutschen gingen mit ihm zum Abendessen
und beflirteten ihn heftig, worüber die Pilger, mit
denen ich ein paar Tische weiter zusammensaß, gutmütige Witzchen rissen.
„Na, was meint ihr — welche von
den beiden wird bei ihm das Rennen machen?“, fragte ich in die Runde.
„Wahrscheinlich die Kleinere von beiden“, hieß es. „Die Größere ist nämlich in
einer der letzten Herbergen mit einem heißen Italiener abgezogen.“
Aber Cody hatte sich bereits
anders entschieden. Er ging nach dem Essen sofort schlafen und zwar allein und
ließ die Mädchen am anderen Morgen ohne ihn weiter ziehen. Während alle Pilger
bereits aufgebrochen waren, trödelte er im Aufenthaltsraum herum.
„Tut mir Leid, dass ich immer
noch da bin“, sagte er mit einem unwiderstehlich schuldbewussten Blick, „aber
morgens kann ich am besten Tagebuch schreiben.“
„Kein Problem“, meinte ich und
gab ihm eine Tasse von meinem Pulverkaffee, „von mir aus kannst du gerne noch
ein bisschen hier bleiben und schreiben. Ich sperr dann schon mal die Albergue zu und fange oben an zu putzen.
Er strahlte mich an, pustete in
seinen Kaffee und zückte sein Schreibzeug. Als ich im Schlafsaal fertig war und
wieder herunter kam, hatte Cody unterdessen die Kochstelle geputzt, die Tische
abgewischt und war dabei, den Aufenthaltsraum zu kehren.
„Aber das musst du wirklich
nicht machen, das ist doch meine Aufgabe“, suchte ich, ihn zu bremsen.
„Bitte lass mich“, insistierte
er sanft.
Natürlich ließ ich ihn. Und als
er ging, tat es mir Leid, dass er nicht zwanzig Jahre älter war — oder ich
zwanzig Jahre jünger.
Kurz vor Ende meiner Dienstzeit
in Molinaseca traf meine Nachfolgerin ein, Simone aus Brasilien, sehr jung,
sehr fröhlich, mit ihr hielt der Samba Einzug in die Albergue. An mir nagte der
Abschiedsschmerz. Noch zwei Tage und Nächte und ich würde diesen hübschen kleinen Ort verlassen, in dem ich mich — trotz Schlafdefizit
und mangelnder Privatsphäre — ungeheuer wohl und glücklich gefühlt hatte.
„Richtig schade, dass ich bald wegfahre“, sagte ich zu Alfredo. „Ach, weißt du,
ich mache das jetzt schon so viele Jahre, habe zahllose Hospitaleros und
Hospitaleras kommen und gehen sehen“, entgegnete er, „da weiß ich, dass
vierzehn Tage eine gute Zeit ist für den Wechsel.“
Das hatte ich jetzt eigentlich
nicht von ihm hören wollen. „Was mache ich nur ohne dich?“, sagte Simone dafür.
Ich hatte sie eingewiesen und ihr alles erklärt; gemeinsam hatten wir noch mal
sämtliche Laken abgezogen, gewaschen und sonnengetrocknet wieder aufgezogen.
Ich konnte getrost abreisen, die Herberge war auf Vordermann gebracht. Typisch cabeza cuadrada , dachte ich,
amüsiert über mich selbst.
Den Tag, bevor ich wegfuhr,
hatte ich quasi frei. Gleich nach Aufbruch der Pilger brachten wir zu dritt die
Herberge rasch in Ordnung, dann fuhr Alfredo mit Simone und mir die Passstraße
hinauf nach Rabanal del Camino, einem Gebirgsdorf, das schon seit Jahrhunderten
ein wichtiges Etappenziel am Jakobsweg ist.
Es war ein herrlicher Tag mit
strahlendem Sonnenschein. „Fast wie im Hochsommer“, meinte Alfredo, während er
gemächlich den Wagen durch die Kurven lenkte. „Im Sommer, wenn es in der
Herberge wie auf dem Jahrmarkt zugeht, wenn ich die Pilger alle irgendwann
nicht mehr sehen kann, komme ich öfters hier herauf, fahre in einen Feldweg
rein, stelle den Wagen ab und bleib drin sitzen und höre ganz laut südamerikanische
Musik — und dann wird’s wieder.“
„Wie? Auch du kannst Pilger
irgendwann nicht mehr sehen?“, staunte ich. „Und ich hab gemeint, bloß ich
könnte sie gelegentlich alle an die Wand klatschen.“
Alfredo lachte herzlich. „Aber
wo denkst du hin? Kein Mensch kann immer und in jeder Situation Engelsgeduld
haben.“ In Rabanal gingen wir in die
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