Raum in der Herberge
Sehenswürdigkeiten es am Camino gibt und wo
man entlang der Route am besten einkaufen kann. Was bleibt da noch übrig von
der Idee des Pilgerns?“
„Aber es gibt doch wohl noch
eine ganze Reihe Menschen, die wirklich auf dem Weg zu sich selbst finden
wollen — oder?“
„Doch natürlich“, lenkte Tomás
ein, „genau für die bin ich ja weiterhin hier.“
„Was meinst du, gibt es
besondere Energiebahnen entlang des Camino?“ Warum ich ausgerechnet Tomás jetzt
diese Frage stellte und nicht vorher schon Alfredo oder einem anderen
erfahrenen Hospitalero, weiß ich selbst nicht. Vielleicht lag es daran, dass
Manjarín etwas Verwunschenes an sich hat. „Selbstverständlich gibt es die.“
Tomás’ Brustton der Überzeugung ließ wenig Raum für Zweifel. „Allerdings kann
man diese Energie nicht spüren, wenn man hier mal fünf und da mal zehn
Kilometer auf dem Weg geht und ansonsten im Auto fährt. Da muss man schon die
ganze lange Strecke auf sich nehmen.“
Während wir uns unterhielten,
sah ich mich in dieser unordentlichen, aber dennoch irgendwie heimeligen
Umgebung um. Dabei fiel mein Blick auf ein Kettchen mit einem Jadeanhänger —
einer kleinen Jakobsmuschel, dem Symbol für die Jakobspilgerschaft. Die Kette
hing neben anderen Souvenirs zum Verkauf aus, eine Jakobsmuschel hatte ich
schon länger haben wollen, also fragte ich Tomás, was sie kosten solle.
„ Un besito , ein Küsschen“, schmunzelte er und forderte es gleich ein.
Die Kette gab er mir nicht
einfach so, sondern im Rahmen einer regelrechten Zeremonie. Er hängte sich
seinen Rittermantel um, läutete eine Glocke, nahm ein Schwert in die Hand, wies
mit der Schwertspitze auf ein Mutter-Gottes-Bild, dann auf meine Jademuschel und
beschwor dabei die Heilige Jungfrau, mich, die ich diese Kette nun tragen
würde, immerdar zu beschützen.
Ich fand das Ganze ein wenig
kurios, aber sehr anrührend — auf jeden Fall trage ich seither die Muschel auf
jeder Reise und bis heute hat sie mich gut beschützt.
Etwa eine halbe Stunde hinter
Manjarín schlug ich mich seitwärts vom Camino in die Büsche und kletterte zu
einem Berg hinauf. Genau oben auf dem höchsten Punkt lag ein großer
Steinbrocken mit einer Aushöhlung in der Mitte, wo man wie in einem Sessel
sitzen konnte. Dort ließ ich mich nieder, blickte über das Gebirge und die
Täler bis weit hinab nach Ponferrada in dunstiger Ferne, dachte gar nichts,
atmete nur einfach Glück und Frieden.
Doch ich war nicht lange allein
auf meinem Adlerhorst, ein Junge aus der Foto-Truppe beim Cruz de Ferro hatte
sich ebenso von diesem Punkt angezogen gefühlt.
„Hast du Wasser dabei?“, fragte
er, als er nahe heran gekommen war.
„Jede Menge.“
„Dann könnte ich uns ja einen
Kaffee kochen“, meinte er, als sei das hier in der Mitte von Nirgendwo das
Selbstverständlichste von der Welt.
Ich kletterte von meinem Sessel
herunter, er packte einen kleinen Gaskocher aus seinem Rucksack, Topf und
Tassen, dazu Kekse und Schokolade — und wenig später machten wir Picknick, und
erzählten uns ein wenig voneinander.
Der Junge, ein Österreicher,
noch keine zwanzig Jahre alt, machte sich viele Gedanken über sich selbst und
seine Stellung in der Welt.
„Ich kann gut reden, weißt du“,
erklärte er, „ geb mich gern intellektuell und lass
kluge Sprüche ab. Damit mache ich Eindruck. Und all die Gedanken, die ich mir
auf dem Camino gemacht habe, hab ich auch sehr klug in meinem Tagebuch
formuliert.“
Er machte eine Pause und ich
spürte, dass er mir etwas mitteilen wollte, das ihm nahe ging.
„Am Cruz de Ferro soll man doch
etwas niederlegen, was einem wichtig ist — oder?“, fragte er. Ich nickte — er
ebenfalls. „Genau, es sollte eigentlich ein richtiges Opfer sein. Das
Wichtigste, was ich bei mir hatte, war mein Tagebuch. Das habe ich dort hingelegt
— ist mir nicht leicht gefallen, da hatte ich schließlich all diese klugen
Gedanken drin festgehalten. Aber habe ich mir gedacht, genau deshalb sollte ich
es dalassen — schließlich bin ich selbst doch mehr als nur kluge Gedanken.“
Erstaunlich, dieser Junge — ich
meinerseits hätte mit knapp zwanzig Jahren solche Überlegungen kaum angestellt.
Aber gut, ich war ja auch in vieler Hinsicht ein Spätzünder. Nachdem wir
unseren Kaffee ausgetrunken hatten, packten wir zusammen und gingen jeder für
sich ins Tal hinab.
In der völlig überfüllten
Herberge sahen wir uns wieder. Sämtliche Zelte waren besetzt, sogar unter
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