Raum in der Herberge
Gästebücher ansehen — weniger das von heuer, sondern die von
einigen Jahren zuvor. Da merkst du den Unterschied. Früher standen darin oft
längere spirituelle Überlegungen, Gedanken, welche die Pilger den Nachfolgenden
als Anregung, Rat oder Trost hinterlassen wollten. Heute bedanken sich die
allermeisten bloß für die Behandlung ihrer Blasen und Muskelkrämpfe.“
Sie lehnte sich zurück und
dachte ein Weilchen nach, zog dann eine bedauernde Grimasse. „Mittlerweile
kommt es mir oft vor, als habe sich der Camino geradezu in einen Circo Jacobeo , einen Jakobszirkus verwandelt — vor allem in der Hochsaison.“
Zu einem Rummelplatz drohe der
Jakobsweg zu werden, hatte bereits Tomás bei meinem Besuch in Manjarín gesagt.
Stand es wirklich so schlimm?
In gewisser Weise musste ich
Laura und Tomás Recht geben. Gerade in den Tagen vor dem Santiago-Fest hatte in
der Herberge weniger Besinnlichkeit als die Ausgelassenheit eines
Betriebsausfluges geherrscht. Einmal hatte ich morgens im Schlafsaal leere
Weinflaschen unter den Betten gefunden „Ach, da sind wieder
Möchtegern-Hemingways unterwegs“, brummte Wolf dazu, „junge Amerikaner, die den
Roman „Fiesta“ gelesen haben und auf den Spuren des Meisters nach Pamplona
gefahren sind. Dort haben sie vom Camino gehört, suchen da jetzt das große
Abenteuer und denken, sie müssten sich jeden Abend wie Hemingway die Kante
geben.“
Das entsprach zwar nicht gerade
dem Sinn einer Pilgerfahrt, aber solche Exzesse waren meiner Meinung nach kein
Phänomen allein der jüngsten Zeit. Wenn ich an die Bücher dachte, die ich zur
Geschichte des Weges gelesen hatte, kam es mir vor, als habe der Jakobsweg
schon immer auch etwas von einem „Jakobszirkus“ an sich gehabt.
Aus dem Mittelalter gibt es
zwar keine Statistiken, aber moderne Schätzungen besagen, dass zur Hochblüte
des Kultes um die Reliquien des Heiligen Jakobus jedes Jahr an die 200.000
Menschen nach Santiago de Compostela aufbrachen. Weniger vorsichtige
Schätzungen sprechen sogar von zeitweise bis zu 500.000 Pilgern jährlich.
Menschen aller Schichten waren
damals unterwegs, arme Bauern wie reiche Edelleute, Sünder, die für den Ablass
nach Santiago pilgerten, Gläubige, die ein Gelübde einlösten, etwas erbitten
wollten oder sich einfach um ihr Seelenheil sorgten — und auch Abenteurer.
Schließlich war im Mittelalter eine Pilgerfahrt die einzige gesellschaftlich
akzeptierte Möglichkeit, von Zuhause fortzukommen, in ein fernes Land zu
reisen, etwas Aufregendes zu erleben.
Zahlreiche Dörfer und Städte
existierten zu jener Zeit fast ausschließlich vom Geschäft mit Pilgern,
außerdem suchten Händler, Huren und Banditen entlang der Route auf ihre Kosten
zu kommen. Insofern herrschte bereits damals am Camino neben aller Frömmigkeit
zugleich durchaus auch eine Art Jahrmarktsatmosphäre.
Später verlor der Jakobsweg
durch Reformation, spanische Inquisition und andere Faktoren seine
Anziehungskraft, fiel für lange Zeit in ein Art Dornröschenschlaf, bis er im
ausgehenden letzten Jahrtausend allmählich wieder daraus erwachte. Mittlerweile
war er dabei, erneut zum Rummelplatz zu werden — aber wie die Geschichte zeigt,
konnte sich das auch wieder ändern.
Außerdem — selbst auf einem
Rummelplatz ist es möglich, zur Besinnung zu finden. Ein paar Tage zuvor hatten
mich bei der Rückkehr vom Abendessen einige Pilger aufgefordert, mich im Patio
zu ihnen zu setzen — alles junge Leute, darunter zwei großspurige amerikanische
Jungs, noch grün hinter den Ohren, die sich zu vorgerückter Stunde aber immer
nachdenklicher gaben.
„Dieser Camino“, meinte einer
von ihnen, „ich glaub’, der hat mich schon sehr verändert. Auf diesen langen
Strecken, da kommt man unheimlich zum Nachdenken. Wenn ich wieder Zuhause bin,
werde ich mir jeden Tag eine Stunde Zeit nehmen, um irgendwo zu gehen — und
einfach nur nachzudenken.“
Das war schon ein Schritt auf
dem „Weg zur Erkenntnis“ — oder etwa nicht?
Ich besann mich auf meine
eigene Pilgerreise. Hatten wir da abends in den Herbergen etwa immer nur
tiefschürfende, besinnliche Gespräche geführt? Mitnichten! Auch wir hatten oft
einfach nur zusammen gesessen, getrunken, gelacht, gefeiert — das gehört
genauso zum Jakobsweg wie die Selbstbesinnung, schließlich wird der Camino doch
als Sinnbild des Lebensweges bezeichnet.
Als ich mich einmal in
Molinaseca mit Alfredo darüber unterhalten hatte, ob sich der Jakobsweg
angesichts der ständig
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