Raum
mitgebringt, die sollen wir anziehen, wenn es im Fenster zu hell ist. Meine ist rot, und die von Ma ist schwarz. »Wie Rap-Stars«, sage ich zu ihr. Sie werden dunkler, wenn wir im Draußen draußen sind, und heller, wenn wir im Draußen drinnen sind. Dr. Clay sagt, meine Augen sind zwar superscharf, aber sie sind noch nicht daran gewöhnt, weit weg zu gucken, ich muss sie aus dem Fenster dehnen. Ich wusste gar nicht, dass ich Muskeln in meinen Augen habe, ich drücke mit den Fingern drauf, fühle aber keine.
»Was macht der Tupfer?«, fragt Dr. Clay. »Bist du schon taub?« Er pellt ihn ab und drückt mich an der Stelle, ich sehe seinen Finger, aber ich kann ihn nicht spüren. Dann kommt das Schlechte, er hat Nadeln, und er sagt, sorry, aber ich brauche sechs Spritzen, damit ich keine schrecklichen Krankheiten kriege, dafür war der Tupfer da, damit die Nadeln nicht wehtun. Sechs geht nicht, ich will zum Klo von dem Raum rennen.
»Daran könntest du sterben«, sagt Ma und zerrt mich zurück zu Dr. Clay.
»Nein!«
»Ich meine die Bazillen, nicht die Spritzen.«
Trotzdem nein.
Dr. Clay sagt, ich bin wirklich mutig, bin ich aber gar nicht, ich habe meinen ganzen Mut schon bei Plan B aufgebraucht. Ich schreie und schreie. Ma hält mich auf dem Schoß, während er eine Nadel nach der anderen in mich reinsticht, und die tun nämlich doch weh, weil er den Tupfer weggemacht hat. Ich brülle, dass ich ihn haben will, und am Ende tut Ma ihn wieder drauf.
»Jetzt sind wir erst mal fertig. Ehrenwort.« Dr. Clay tut die Nadeln in ein Kistchen an der Wand, auf dem steht: Verletzungsgefahr . In seiner Tasche hat er einen Lutscher für mich, einen orangenen, aber ich bin schon zu satt. Er sagt, ich kann ihn mir für später aufheben.
»… in vielerlei Hinsicht wie ein Neugeborenes, ungeachtet seiner bemerkenswerten Kenntnisse im Lesen und Schreiben«, sagt er zu Ma. Ich passe genau auf, weil der Er ich bin. »Neben den Problemen mit dem Immunsystem sind vor allem Herausforderungen zu erwarten im Bereich … tja … der gesellschaftlichen Eingewöhnung und der Sinnesmodulation … also beim Filtern und Sortieren all der Stimuli, die auf ihn einströmen … sowie die Schwierigkeiten bei der räumlichen Wahrnehmung …«
Ma fragt: »Stößt er deshalb andauernd irgendwo gegen?«
»Genau. Er hat sich so an seine beengte Umgebung gewöhnt, dass er gar nicht lernen musste, Entfernungen einzuschätzen.«
Ma hat ihren Kopf in den Händen. »Ich dachte, er wäre in Ordnung. Jedenfalls im Großen und Ganzen.«
Bin ich nicht in Ordnung?
»Man kann es auch andersherum betrachten …«
Aber dann spricht er nicht weiter, weil es klopft. Als die Tür aufgeht, ist es Noreen mit noch einem Tablett.
Ich lasse einen Rülpser los, mein Bäuchlein ist immer noch voll mit Frühstück.
»Ideal wäre wohl eine Beschäftigungstherapie, und zwar schwerpunktmäßig Spiel- und Kunsttherapie«, sagt Dr. Clay. »Aber bei unserer Besprechung heute Morgen waren sich alle einig, dass es im Augenblick vordringlich darum geht, dafür zu sorgen, dass er sich geborgen fühlt. Ehrlich gesagt, gilt das für Sie beide. Im Wesentlichen kommt es darauf an, ganz langsam den Bereich des Vertrauens zu erweitern.« Seine Hände sind in der Luft und wedeln herum. »Da ich das Glück hatte, letzte Nacht in der Psychiatrie Notdienst zu haben …«
»Glück?«, fragt Ma.
»Ich hätte mich anders ausdrücken sollen.« Er grinst irgendwie. »Jedenfalls werde ich fürs Erste mit Ihnen arbeiten …«
Wie, arbeiten? Ich wusste gar nicht, dass Kinder arbeiten müssen.
»Natürlich geben mir meine Kollegen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie ihren Input, ebenso wie unser Neurologe und die Psychotherapeuten. Zurate ziehen werden wir außerdem einen Ernährungswissenschaftler, einen Physio…«
Noch ein Klopfen. Es ist schon wieder Noreen, diesmal mit einem Polizisten, aber nicht dem mit den gelben Haaren von gestern Abend.
Das macht jetzt drei Personen in dem Raum hier, plus uns beide, zusammen also fünf, er ist ganz voll mit Armen und Beinen und Körpern. Sie reden alle durcheinander, bis es mir wehtut. »Hört auf, alle zusammen zu reden«, sage ich, aber nur auf stumm. Ich stecke mir die Finger in die Ohren.
»Willst du eine Überraschung?«
Das war ich, zu dem Ma das gesagt hat, habe ich gar nicht gemerkt. Noreen ist weg und der Polizist auch. Ich schüttele den Kopf.
Dr. Clay sagt: »Ich bin nicht sicher, ob das die
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