Raum
ganz komisch, weil niemand sie gekuschelt hat.«
»Wie komisch?«
Ma beißt sich auf die Lippen. »Krank im Kopf.«
»Wie die Verrückten?«
Sie nickt. »Sie haben sich selbst gebissen und solche Sachen.«
Hugo schneidet sich die Arme auf, aber ich glaube nicht, dass er sich beißt. »Warum?«
Ma pustet die Luft aus den Backen. »Schau mal, wenn ihre Mütter da gewesen wären, dann hätten sie mit den Affenbabys geschmust, aber weil die Milch nur aus Leitungen kam … es hat sich eben herausgestellt, dass sie Liebe genauso brauchten wie die Milch.«
»Das ist eine schlimme Geschichte!«
»Ach, tut mir wirklich leid. Das hätte ich dir nicht erzählen sollen.«
»Doch, hättest du«, sage ich.
»Aber …«
»Ich will nicht, dass es schlimme Geschichten gibt und ich sie nicht weiß.«
Ma drückt mich ganz fest. »Ach, Jack, diese Woche komme ich dir bestimmt ein bisschen komisch vor, stimmt’s?«, sagt sie.
Ich weiß es nicht, weil alles komisch ist.
»Ich mache einen Fehler nach dem anderen. Dabei weiß ich ja, dass ich als Ma für dich da sein, aber gleichzeitig auch wieder lernen muss, ich selbst zu sein, und das ist …«
Aber ich dachte, sie und die Ma ist dasselbe.
Ich will noch mal ins Draußen, aber Ma ist zu müde.
»Was für ein Tag ist heute Morgen?«
»Donnerstag«, sagt Ma.
»Wann ist Sonntag?«
»Freitag, Samstag, Sonntag …«
»Noch drei, wie in Raum?«
»Ja, eine Woche hat überall sieben Tage.«
»Was wollen wir als Sonntagsgutti haben?«
Ma schüttelt den Kopf.
Am Nachmittag steigen wir in den Lieferwagen, auf dem Cumberland-Klinik steht. Wir fahren echt wahr aus den großen Toren raus in den Rest von der Welt. Eigentlich will ich gar nicht, aber wir müssen dem Zahnarzt Mas Zähne zeigen. Die von Mas Zähnen, die immer noch wehtun. »Sind da Personen, die keine Freunde von uns sind?«
»Nur der Zahnarzt und eine Helferin«, sagt Ma. »Alle anderen haben sie weggeschickt. Es ist ein Extratermin nur für uns.«
Wir haben unsere Mützen und unsere coolen Sonnenbrillen auf, aber nicht die Sonnencreme, weil die schlimmen Strahlen nämlich vom Glas abprallen. Ich darf meine biegsamen Schuhe anbehalten. Im Lieferwagen ist ein Fahrer mit einer Kappe, ich glaube, der ist auch stumm. Auf dem Sitz gibt es noch einen extra Kindersitz, der macht mich höher, damit der Gurt mir nicht die Kehle zerquetscht, wenn wir plötzlich bremsen. Ich gucke aus dem Fenster, und ich putze mir die Nase, heute ist es grüner.
Auf den Bürgersteigen sind jede Menge Ers und Sies, so viele habe ich noch nie gesehen. Ich frage mich, ob die alle echt in echt sind oder nur ein paar davon. »Ein paar von den Frauen haben so lange Haare wie wir«, sage ich Ma, »aber die Männer gar nicht.«
»Och, manche schon, Rockstars zum Beispiel. Es ist keine Regel, es ist nur eine Sitte.«
»Was ist eine … ?«
»Eine dumme Angewohnheit, die alle haben. Möchtest du dir die Haare schneiden lassen?«, fragt Ma.
»Nein.«
»Es tut gar nicht weh. Ich hatte auch kurze Haare, bevor … damals mit neunzehn.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich will doch mein Stark nicht verlieren.«
»Dein was?«
»Meine Muskeln, so wie Samson in der Geschichte.«
Da muss sie lachen.
»Guck, Ma, da zündet sich ein Mann an!«
»Er zündest sich nur eine Zigarette an«, sagt sie. »Ich habe früher auch geraucht.«
Ich starre sie an. »Warum?«
»Weiß ich auch nicht mehr.«
»Guck, guck!«
»Schrei doch nicht so.«
Ich strecke die Hand aus, da laufen lauter Kleine die Straße entlang. »Die Kinder sind ja aneinandergefesselt.«
»Das glaube ich nicht, dass die gefesselt sind.« Ma tut ihr Gesicht näher ans Fenster. »Aber nein, die halten sich nur an einer Schnur fest, damit sie nicht verloren gehen. Und guck mal, die ganz Kleinen fahren in den Bollerwagen da, in jedem sechs. Die gehen bestimmt in eine Kindertagesstätte, so wie Bronwyn.«
»Ich will Bronwyn sehen. Kannst du bitte machen, dass wir zu der Kinderstätte fahren, wo die Kinder sind und meine Cousine Bronwyn?«, frage ich den Fahrer.
Er hört mich nicht.
»Der Zahnarzt wartet aber schon auf uns«, sagt Ma.
Die Kinder sind weg, ich starre aus allen Fenstern.
Der Zahnarzt ist Dr. Lopez, als sie eine Sekunde lang ihre Maske hochhebt, hat sie lila Lippenstift. Zuerst guckt sie sich mich an, weil ich ja auch Zähne habe. Ich lege mich in den großen, beweglichen Stuhl. Ich starre mit weit offenem Mund hoch, und sie bittet mich, alles zu zählen,
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