Raumschiff der Generationen
genießen, die Beine von mir strecken …«
Feierabend – kein Mensch wußte, woher dieses Wort kam. Es war plötzlich dagewesen, jeder gebrauchte es, um etwas ganz Bestimmtes auszudrücken – einen Zustand, eine Stimmung, die bis zu diesem Zeitpunkt den Menschen im SCHIFF unbekannt gewesen waren.
Marc blickte die schnurgerade Straße zurück. Die Fabrikationsstätten im Norden waren schon nicht mehr richtig zu erkennen. In einer unübersehbaren Kette schoben die Menschen die Container vor sich her. Die nächsten waren schon bis auf wenige Schritte an sie herangekommen. Sie hielten ebenfalls an. Es waren zwei Frauen. Sie hatten einen kleineren Behälter zwischen sich. Die eine von ihnen war Rhea van Sijn.
»Hallo, Marc! Ihr macht doch nicht etwa schlapp?« Dabei keuchte sie und hielt sich die Seiten.
Marc und sein Begleiter stemmten sich wieder in die Gurte. Die Frau und der Mann hinter ihnen bückten sich und begannen zu schieben.
Merkwürdig, dachte der junge Mann, als sie die letzten paar hundert Meter in Angriff nahmen, die sie noch von ihrem Ziel trennten, wie die Welt sich verändern konnte in einem einzigen Tag – durch ein einziges Ereignis!
Dreißig Stunden zuvor hatten Tanne und er noch geglaubt, den Beginn einer Revolution zu erleben, als sie beobachteten, wie die Oppos mit Anatoli und der Fleming in ihrer Mitte davonglitten. Dann war das Gas aus den Düsen gekommen, und die Menschen hatten, was immer in diesen Augenblicken in ihrer Absicht gelegen hatte, vergessen. Willenlos hatten sie sich zu ihren Unterkünften treiben lassen, hatten dort Minuten oder auch Stunden verdämmert – je nach dem Grad der für sie bestimmten Wirksamkeit des Suggestor-Gases.
Später – als Wille und Reflexion zurückkehrten – mußten sie erkennen, daß die Welt sich verändert hatte; ein Ereignis hatte sie verändert, ein Ereignis, dessen Tragweite niemand abzuschätzen, dessen Ausgang niemand vorauszusehen vermochte.
Irgendwo im leeren, schwarzen Raum vor ihnen war etwas unendlich Fremdes, Unbekanntes: unirdisches Leben …
Die Begegnung mit diesem Leben – wie immer sie ausfiel, ob in Freundschaft, in Feindschaft oder auch ohne jeglichen Akzent – schien, das war aus den Worten der Hauptelektronik zu erkennen, unvermeidlich, und sie warf einen Schatten voraus, der alles andere, was bis dahin für die Menschen im SCHIFF Gültigkeit besessen hatte, verdrängte.
Die Begegnung wischte zur Stunde alle Gegensätze im SCHIFF hinweg, vereinte Jung und Alt in einer Erwartung, in der sich vieles mischte: Neugier, Wissensdurst, Begeisterung oder auch Skepsis und Furcht.
Die praktische Konsequenz dieses Sachverhalts – und dies schienen die Schöpfer des Sonderprogramms in genialer Weise vorausgesehen zu haben – hatte sich umgehend gezeigt. Jedermann im SCHIFF, ob jung oder alt, hatte von Stund an akzeptiert, was Mensch und Maschine für notwendig erachtet hatten, um das Außergewöhnliche der Situation zu meistern, sowie für die kommende Begegnung gerüstet zu sein, was immer sie brachte.
Widerspruchslos hatten die Menschen die Rolle derer übernommen, die von einem Augenblick zum anderen zu wertlosem Schrott degradiert worden waren, jener Maschinen nämlich, die bis dahin problem- und wartungslos alle notwendige Arbeit verrichtet hatten. Ein langvergessener, schon verloren geglaubter Trieb war wieder zum Vorschein gekommen, der Trieb, überleben zu wollen.
Dieser Trieb – so ging es Marc durch den Kopf, als er, am Stern angekommen, zurückblickte – war es letztlich, der die Massen dazu bewegte, im Schweiße ihres Angesichts die für ihr Weiterleben wichtigen Güter über das lange Band der Straße zu schleppen …
Jemand winkte. Tanne!
Marc winkte zurück. Das Mädchen kam zusammen mit einem Dutzend Männer und Frauen die West-Ost-Durchfahrt herunter. Er sah, wie sie die Spur betrat, die sie zu ihm führen würde.
»Marc«, hörte er die Stimme Rhea van Sijns hinter sich. »Carezzini will Sie sprechen. Es ist – wegen des Filmes.«
Marc drehte sich um, blickte die junge Frau an, die vorgestern seine neue Chefredakteurin geworden war und die sich jetzt die Blasen an ihren Händen betrachtete. Der Film! Er zögerte einen kurzen Augenblick, dann sagte er:
»Rhea, ich denke, wir verschieben die Sache mit dem Film erst einmal. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
Rhea warf ihm einen schnellen Blick zu, nickte: »Ja, ich glaube auch, daß es nicht der richtige Zeitpunkt ist …«
»Ich
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