Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
heran, obwohl tief in ihr eine Alarmsirene zu schrillen begann. »Was ...«, setzte sie an, doch vollenden sollte sie diesen Satz nie mehr.
Die Hand des Fremden schoss vor und schloss sich um ihren Hals. Aber er drückte nicht zu, wie es eigentlich bei einem Überfall zu erwarten gewesen wäre. Er ließ die Hand einfach nur dort liegen - eine Sekunde, zwei Sekunden.
Das genügte.
Der Gesichtsausdruck des Mädchens veränderte sich. Die jäh aufgeflackerte Panik wurde zu völliger Gleichgültigkeit, zu beinahe unmenschlicher Apathie. Dann drang ein kleiner, erschrockener Laut über die Lippen des Mädchens, als sie zu spüren begann, wie sich ihre Persönlichkeit auflöste und sie in das große Nichts hinabstürzte, das der Tod ist.
Wieder verstrichen einige Sekunden.
Dann öffnete das Mädchen die Tür der Discothek, und Brian McDermott trat ein. Sofort postierten sie sich beidseits der Pforte. Ohne ein Wort zu wechseln, wussten sie, was zu tun war.
Die nächsten Gäste trugen den Tod für Raven ins Innere des Cube.
»Die Damentoilette«, flüsterte Hillary Gifford heiser. »Der Vorraum mit den Waschbecken hat ein Fenster, durch das man nach draußen auf einen Hinterhof gelangen kann. Der Eingang befindet sich direkt hinter Ihrem Rücken. Die Tür geht übrigens nach innen auf.«
»Das ist gut.« Raven stieß einen unhörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Offenbar verfügte die Diplomatentochter doch über größere Reserven an Nervenkraft, als er ihr ursprünglich zugetraut hatte. »Passen Sie auf«, fuhr er im Flüsterton fort, »Sie stehen jetzt auf und gehen in ganz normalem Tempo zur Toilettentür hinüber. Wahrscheinlich wird man Sie nicht belästigen, da es die Thul Saduum in erster Linie auf mich abgesehen haben. Treten Sie ein und machen Sie die Tür wieder hinter sich zu. Wenn Sie im Waschraum sind, öffnen Sie sofort das Fenster und steigen Sie hinaus - ganz gleich, ob ich nachkomme oder nicht. Sollte ich es nicht schaffen, begeben Sie sich auf dem kürzesten Wege zu Ihrem Vater und berichten ihm alles, was sich zugetragen hat. - Nein, keine Widerrede! Sir Anthony weiß über die Ereignisse in Stonehenge Bescheid, und wenn es mich erwischen sollte, ist er der Mann, der den Kampf gegen die Thul Saduum fortsetzen wird. - Wie lange werden Sie etwa brauchen, bis Sie das Fenster geöffnet haben?«
Hillary starrte ihn benommen an. Die Tatsache, dass ihr Vater Ravens Verbündeter in der Auseinandersetzung mit den dämonischen Thul Saduum war, schien sie fast ebenso sehr zu schockieren wie die Bedrohung, die sich so plötzlich in ihrem Rücken zusammengebraut hatte. »Vom Aufstehen an vielleicht eine halbe Minute«, sagte sie. »Länger auf gar keinen Fall.«
»Gut. Dann gehen Sie - jetzt!«
Durch Hillarys schmalen Körper ging ein Ruck. Es kostete sie sichtliche Überwindung, den Plastikstuhl zurückzuschieben und sich zu erheben, aber nachdem sie erst einmal auf den Füßen war, ging alles Weitere viel leichter. Völlig natürlich, ohne das geringste äußerlich erkennbare Zeichen der Anspannung, schritt sie lächelnd an Raven vorbei und verschwand aus seinem Gesichtsfeld. Zehn Sekunden später hörte er die Toilettentür hinter ihr zuschlagen.
Er zählte mit zusammengebissenen Zähnen weiter bis dreißig, dann stand auch er auf und wandte sich um. Die Tür war genau dort, wo er sie erwartet hatte. Entschlossen begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Das war der kritische Augenblick.
Hinter ihm geriet die Menge in Bewegung.
Raven hielt den Atem an. Er machte einen weiteren Schritt, dann noch einen. Die Toilettentür war vielleicht noch drei Meter entfernt.
Die Musik verstummte. Das Schweigen war so plötzlich und so intensiv, dass es Raven in den Ohren wehtat. Also hatten sie auch den Discjockey schon infiziert, ebenso wie die meisten oder alle der Gäste. Aber wieso schalteten sie die Musik ab?
Dann begriff Raven.
Die Stille war eine psychologische Waffe - und sie war gegen ihn gerichtet. Die kleinen schwarzen Kügelchen wussten, dass er vorhatte zu fliehen. Die Stille war eines ihrer Mittel, ihn daran zu hindern.
Und beinahe hätte es gewirkt!
Denn als die Musik aussetzte, hatte Raven unwillkürlich im Schritt innegehalten. Jetzt, da er begriff, welch teuflische Absicht in der scheinbar so nebensächlichen Handlung seiner Widersacher steckte, lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Er machte einen verzweifelten Satz nach vorne, wobei er einen neben der Toilettentür
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