Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
Winter war es leichter. Im Sommer überkam ihn oft ein Gefühl von Unwirklichkeit, wenn er durch die Allee fuhr oder spazierte. Das Licht, das durch die Lindenkronen sickerte und wie Melodien auf den Weg fiel. Fast konnte es ihm angesichts dieser ländlichen Idylle, in der er lebte, schlecht werden.
Mauri Kallis lag wach in seinem Schlafzimmer im ersten Stock. Er wollte nicht auf die Uhr schauen, denn wenn es Viertel vor sechs war, musste er in einer Viertelstunde aufstehen, und dann wäre es zu spät, um noch einmal einzuschlafen. Andererseits blieb ihm vielleicht noch eine Stunde, bis er aufstehen musste. Er sah auf die Uhr, das machte er am Ende immer. Viertel nach vier. Er hatte drei Stunden geschlafen.
Er musste mehr schlafen, sonst lag doch auf der Hand, dass alles bald zum Teufel gehen würde. Er versuchte, ruhig zu atmen und sich zu entspannen. Er drehte sein Kissen um.
Als er sich in eine Art Halbschlummer versetzt hatte, kehrte der Traum zurück.
Im Traum saß er auf seiner Bettkante. Das Zimmer sah genauso aus wie in Wirklichkeit. Spärlich möbliert, der kleine elegante Schreibtisch mit den Intarsien und der schön gealterte gustavianische Sessel mit den gepolsterten Armlehnen. Die begehbare Garderobe aus Walnussholz und mattem Glas, wo Anzüge und Hemden sorgfältig gebügelt in Reih und Glied hingen, die handgenähten Schuhe in einem eigenen Schrank, mit Schuhspannern aus Zedernholz. Die Wände waren mit Leinölfarben gestrichen, blassblau patiniert, er hatte sich Borten und Dekormalerei verbeten, als seine Frau die Renovierungsarbeiten geleitet hatte.
Aber im Traum sah er Innas Schatten an der Wand. Und als er den Kopf drehte, saß sie in der Fensternische. Hinter ihr glitzerte nicht der Mälar. Stattdessen sah er die Umrisse der Hochhaussiedlung »Terrassen«, in der er aufgewachsen war.
Immer wieder kratzte sie sich an der bandförmigen Wunde um ihren Knöchel. Das Fleisch blieb unter ihren Nägeln hängen.
Jetzt war er wieder hellwach. Er hörte seine eigenen Herzschläge. Ruhig, ruhig. Nein, das ging nicht, er hielt es nicht aus, er musste aufstehen.
Er schaltete das Licht ein und warf die Decke weg wie eine Feindin, schwenkte die Beine über die Bettkante und stand auf. Nicht an Inna denken. Sie ist nicht mehr da. Regla gibt es.
Ebba und die Jungen. Kallis Mining.
Natürlich stimmte mit ihm etwas nicht. Er versuchte, an die Jungen zu denken, aber das gelang ihm nicht. Ihre Königsnamen kamen ihm albern und fremd vor, Carl und Magnus.
Als sie klein gewesen waren, hatten sie in ihren teuren Kinderwagen gelegen. Er war immer auf Reisen gewesen. Hatte sie nie vermisst. Konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern.
Im selben Moment hörte er aus der Mansarde über seinem Zimmer einen lauten Knall. Und dann noch einen.
Ester, dachte er. Jetzt trainiert sie wieder mit ihren Gewichten.
Herrgott, man konnte glauben, dass ihm gleich das ganze Dach auf den Kopf fallen würde.
Inna hatte Ester in ihr Leben hineingezogen.
Du hast eine Schwester, sagt sie.
Sie sitzen in der SAS-Lounge auf dem Kopenhagener Flughafen und sind unterwegs nach Vancouver. Draußen sieht es aus wie Sommer, aber noch immer weht ein kalter Wind. In einem knappen Jahr wird sie tot sein.
»Ich habe drei«, antwortet Mauri mit kühler Stimme, die betonen soll, dass ihn dieses Thema nicht interessiert.
Er will nicht an sie denken. Die älteste Schwester wurde geboren, als er neun war. Mit einem Jahr wurde sie von der Fürsorge übernommen. Er wurde ein Jahr darauf geholt.
Er versuchte immer, alle Gedanken an seine Kindheit in Terrassen zu denken, die Blocks in Kiruna, wo das Sozialamt Wohnungen für Leute bereithielt, die selbst keine Mietverträge bekamen. Schrille Stimmen und Streitereien und Geschrei drangen immer wieder durch die Wände, und niemand rief jemals die Polizei. Die Schmierereien an den Wänden im Treppenhaus wurden nicht entfernt. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit haftete an den Häusern.
Und es gibt Gedanken, die er niemals denkt. Die Erinnerung an ein weinendes Kinderstimmchen, sie steht im Gitterbett, Mauri, zehn Jahre alt, nimmt seine Jacke und knallt mit der Wohnungstür. Er bringt es einfach nicht über sich, das noch länger mit anzuhören. Ihre Stimme durchdringt die geschlossene Tür, folgt ihm die Treppe hinunter. Das Geräusch seiner Schritte schlägt gegen die Betonwände. Der Nachbar hört Rod Stewart. Ein süßlicher, Übelkeit erregender Geruch aus dem Müllschacht. Mama hat er seit
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