Rebellion Der Engel
Angst, dass ich abstürze? Du hältst mich doch.«
»Das schon, aber es ist windig und kalt. Du würdest nur frieren.«
Warm war es tatsächlich nicht und mein Trägertop war sicher nicht die geeignete Bekleidung, um mitten in einer windigen Nacht auf der Spitze eines 160 Meter hohen Turms zu stehen. Trotzdem war ich enttäuscht. Natürlich war ich schon öfter dort oben gewesen, dieses Mal wäre es jedoch definitiv eine ganz neue Erfahrung.
»Du willst das wirklich, oder?«
Ich nickte.
»Also gut. Nächster Halt: Space Needle.«
Wir wurden langsamer, und kurz bevor wir die Space Needle erreichten, brachte Akashiel uns in eine aufrechte Position, dann landeten wir sicher auf dem Dach oberhalb der Aussichtsplattform. Meine Knie waren weich vom Flug und hätten nachgegeben, wenn Akashiel mich nicht nach wie vor festgehalten hätte. Der Wind zerrte mit seinen kalten Fingern an mir, doch Akashiel hielt mich so fest umschlungen, dass ich nicht einmal ins Wanken geriet. Ihm selbst schienen die heftigen Böen nichts anhaben zu können.
Ich bewegte mich vorsichtig, obwohl das vermutlich gar nicht nötig gewesen wäre, denn Akashiel folgte jeder meiner Bewegungen, ohne seinen Griff auch nur ein wenig zu lockern.
Im Südosten zeichnete sich hinter den Wolkenkratzern im Stadtkern der verschneite Gipfel des Mount Rainier im Mondlicht ab. Mein Blick schweifte jedoch schnell weiter, fasziniert und angezogen von den Lichtern der Großstadt. Ich war in Seattle aufgewachsen und bildete mir ein, die Stadt in- und auswendig zu kennen, heute erschien sie mir hingegen zum ersten Mal aufregend fremd und neu. Wie mein Mathematikprofessor einmal gesagt hatte: Alles im Leben war eine Frage des Blickwinkels.
»Du zitterst.«
»Das macht nichts.« Es war mir nicht einmal aufgefallen, bevor er es ausgesprochen hatte. Dennoch hätte ich das hier um nichts in der Welt missen wollen.
Ich vernahm ein Rascheln, als er seine Flügel bewegte, und einen Herzschlag später legten sie sich wie ein schützender Kokon um mich und sperrten den Wind und die Kälte aus. Mit einem wohligen Seufzer lehnte ich mich gegen Akashiels Brust, während meine Augen sich nicht von der unglaublichen Aussicht lösen wollten.
Alles sah so winzig und unwirklich aus – ein Absturz aus dieser Höhe würde die Realität jedoch schnell wieder zurechtrücken. Vorsichtig wich ich ein Stück von der Kante zurück und wandte den Kopf, um Akashiel ansehen zu können. »Bin ich unsterblich?«
»So unsterblich wie wir Engel.«
Ich weiß nicht, ob es das war, was ich hören wollte. Natürlich hatte die Vorstellung ihren Reiz, für immer jung zu sein, niemals alt und krank zu werden und zu sterben. Aber was, wenn das ewige Leben gar kein so großer Spaß war? Wie würde es sein, den Menschen, die man liebte, dabei zuzusehen, wie sie langsam dahinsiechten, während man selbst sich nicht veränderte?
»Was ist mit Verletzungen?« Die Schmerzen, die ich nachmeinem Erwachen im Krankenhaus gespürt hatte, waren mir noch deutlich in Erinnerung.
»Du spürst Schmerz, doch selbst schwerste Verletzungen heilen – und das weitaus schneller als normal.«
Offen gestanden ist es ein Wunder, dass wir uns miteinander unterhalten können. Das waren Dr. Fiedlers Worte gewesen, nachdem ich im Krankenhaus zu mir gekommen war. »Ich müsste tot sein.« Nein! Ich war in jener Nacht gestorben. Dass ich noch hier war, lag einzig und allein an meiner Wiedergeburt, wie Akashiel es nannte. Die Erkenntnis traf mich so plötzlich, dass mir schwindlig wurde. Unwillkürlich klammerte ich mich fester an Akashiels Arme.
»Unfälle oder auch Menschen können uns verletzen, uns sogar so schlimmen Schaden zufügen, dass wir in ein Heilkoma fallen, töten jedoch kann uns nur ein anderer Engel.«
Und Engel waren die Guten, himmlische Heerscharen! Sie würden niemanden ihresgleichen umbringen – es sei denn, man war ein unreiner Mischling wie ich.
Als wir uns auf den Rückweg machten, versuchte ich jedes Detail meiner Umgebung aufzusaugen und zu einer unvergesslichen Erinnerung werden zu lassen. Meine Knie waren weich und ich wankte ein wenig, als Akashiel mich schließlich wieder sicher auf seinem Balkon absetzte.
Sobald er mich freigab, drehte ich mich zu ihm herum, um mir seine Flügel genauer anzusehen. Sie waren nicht einfach grau, wie ich erst gedacht hatte. Im Licht, das aus dem Schlafzimmer nach draußen fiel, schimmerten sie silbern. Obwohl ich sie bereits gespürt hatte, scheute ich davor
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