Rebellion Der Engel
hatte, offenbarte sich als ein Muster, dessen Sinn sich mir erst erschloss, als ich ein paar Schritte zurücktrat, um die Wand als großes Ganzes zu betrachten. Dort im Fels waren riesige Gestalten zu erkennen, teils aufrecht stehend, teils zusammengekauert. Manche blickten in den Himmel und hatten die Arme in einer abwehrenden Geste erhoben, andere die Gesichter zu Fratzen verzerrt und die Finger zu angriffslustigen Klauen verkrümmt. Sie sahen aus, als habe der Stein sie in ihrer letzten Bewegung gefangen. Obwohl ich mich dagegen gewehrt und es zu verhindern versucht hatte, war ich langsam näher getreten und hatte die Hand nach dem Fels ausgestreckt, ohne ihn jedoch zu berühren. Das musste ich auch nicht, denn was ich spürte, war auch so deutlich genug. Da waren Schmerz und rasende Wut, die von diesen Steinfratzen ausgingen.
Diese Gefühle waren es, die mich letztlich lange vor dem Morgengrauen aus dem Schlaf geschreckt hatten, weshalb ich eine Stunde früher als gewöhnlich im Laden gewesen war. Wie schon beim ersten Mal, hing mir auch dieser Traum immer noch nach und es fiel mir schwer, meine Gedanken auf die Arbeit zu konzentrieren. Als mir das gerade einigermaßen zu gelingen schien, wurde die Bürotür geöffnet und Amber kam herein.
Sie ließ sich mir gegenüber in den Sessel fallen und unterzog mich einer eingehenden Musterung. Ich versuchte ein unschuldiges Gesicht zu machen und so zu tun, als sei nichts gewesen, doch Amber kannte mich zu gut, um darauf hereinzufallen.
»Sag jetzt nicht, du bist noch einmal verfolgt worden?«, sagte sie entsetzt.
»Nein, nein«, entgegnete ich hastig und fügte hinzu: »Zumindest nicht von diesen Maskierten.«
»Was ist passiert?«
Ich wollte endlich mit jemandem über all die Merkwürdigkeiten der letzten Zeit reden. Amber war der einzige Mensch, dem ich wirklich bedingungslos vertraute. Ich wollte ihre Meinung hören, wollte mich versichern, dass ich nicht durchdrehte, aber vor allem wollte ich mir endlich alles von der Seele reden.
»Letzte Nacht war jemand in meinem Garten«, platzte ich trotz meiner Angst, dass sie mir kein Wort glauben würde, heraus. Scheiße, ich würde mir ja selbst nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. »Mitten im Gespräch hat er sich plötzlich in Luft aufgelöst.«
»Er ist zwischen den Büschen verschwunden?«
»Nein, direkt vor meinen Augen. Im einen Moment war er noch da – im nächsten verschwunden.«
»Es war dunkel, du hast bestimmt –«
»Der Kerl hat behauptet, ein Engel zu sein!«
»Du hast mit ihm gesprochen?«
»Ich habe einen Stein nach ihm geworfen, damit er verschwindet.« Je mehr ich sagte, desto deutlicher wurde mir bewusst, wie sich das alles anhören musste. Doch es war zu spät, um den Mund zu halten. »Ich weiß, wie das klingt, Amber, aber ich bin ganz sicher nicht verrückt.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.« Sie bedachte mich mit einem langen Blick, ein Zeichen, das sie ihre nächsten Worte sorgfältig abwägte. »Womöglich wäre es gut, wenn du noch einmal mit Dr. Fiedler sprichst. Vielleicht sind die Tabletten zu stark, die er dir verschrieben hat.«
Ich verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass ich seit meinerEntlassung keine Tabletten mehr zu nehmen brauchte. Es hätte nichts daran geändert, dass sie mich zu Dr. Fiedler schicken wollte. Dann eben unter der Prämisse, dass ich die Medikamente vermutlich zu früh abgesetzt hatte. Bis gestern wäre ich noch ihrer Meinung gewesen, mittlerweile war ich jedoch davon überzeugt, dass das alles wirklich passierte. Einzeln betrachtet wäre es sicher möglich, sich das eine oder andere von dem, was geschehen war, einzubilden. Aber alles auf einmal? So viel Fantasie hatte selbst der durchgedrehteste Irre nicht. Die Dinge, die mir widerfuhren, waren alles andere als normal, doch das hatte nichts mit meinem Geisteszustand zu tun. Viel wahrscheinlicher war es, dass der Unfall etwas ausgelöst hatte. Die Frage war nur, wie ich herausfinden konnte, was das war.
Sprich mit diesem Ash, wisperte mir ein vorlauter Gedanke ins Ohr. Aber wie konnte ich mit jemandem sprechen, der vielleicht für all das verantwortlich war?
»Da war dieser Kerl.« Ehe ich mich bremsen konnte, erzählte ich Amber von Ash McCrays gestrigem Besuch und davon, wie unheimlich ich ihn gefunden hatte. Dass er mir gleichzeitig so vertraut erschienen war, ließ ich ebenso unter den Tisch fallen wie seinen Namen. Im Nachhinein war ich davon überzeugt, dass ich mir
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