Rechnung offen
Hälfte des Bettes ungemacht, eine blaue Pyjamahose lag dort, die andere glatt. In einem Hospiz war sie gestorben, Nicolai kannte die Adresse auswendig, hatte sie gegoogelt, sich durch die Website geklickt, Bäume mit Herbstlaub, Spatzen tranken aus einer Wasserschale, Ort des Friedens in beruhigendem Dunkelgrau. Auf ihrem Nachtschrank lagen eine Maria-Callas-Biographie, Ursulas Uhr, sie war ihr vom Handgelenk gerutscht, auf der Toilette, war ins Becken gefallen, Helge hatte sie rausholen müssen. »Zum Glück hab ich nur klein gemacht«, hatte Ursula am Telefon gesagt und geweint. Nicolai hatte ihren Kleiderschrank geöffnet, den Rollkoffer herausgehoben, wahllos in die hängenden Stoffe gegriffen, hatte einpacken wollen, ihre Sachen einpacken, mitnehmen. Eines der Kleider kannte er, er hatte noch bei ihnen gewohnt, in Wien waren sie gewesen, er war ihnen entgegengegangen, als er den Wagen in der Auffahrt hörte, verkatert. »Warte«, hatte Ursula geschrien, sobald sie ihn sah, hatte am Reißverschluss des braunen Koffers gezerrt, »muss ich dir zeigen« gesagt. Kalt war es, sternenklar, Oktober oder November, er hatte nur ein T-Shirt getragen, Spucke hatte sich sehr flüssig in seinem Mund gesammelt, während Ursula den Koffer aufklappte, ihm den grün-blau-golden gemusterten Stoff hinhielt. Er hatte ihn nehmen wollen, doch sie war schneller gewesen, hatte den Stoff gegen ihre Wangen gepresst, sich nach Helge umgesehen, den Arm in seine Richtung gestreckt, hatte in der Luft die Finger geschlossen, als würde sie seine Hand ergreifen. Er ließ das Kleid fallen, der Stoff blähte sich auf, ehe er sich flach auf den Boden legte. Alles Helge, dachte er, die Kleider, das Buch, die gerettete Uhr. Den Koffer ließ er vor der offenen Schranktür liegen, ging durch die Zimmer und wusste nicht, was er nehmen sollte.
Den Zeitungsartikel hatte er eingepackt, er fand ihn in ihrem Schreibtisch, bei den alten Weihnachtskarten. Seine Skiausrüstung, verkaufen wollte er sie, das Metronom mit den Perlmuttintarsien, Ursula hatte es für den Unterricht benutzt. Ihre Stimmgabel, die Zinken fest gegen seine Handfläche gepresst, damit sie keinen Ton von sich gaben. Ursulas Laptop, von Helge bezahlt, aber er hatte alles installiert, einen gelben Impfpass mit seinem Namen drauf, sein Abiturzeugnis, die Geburtsurkunde, Vater unbekannt . An Fotos hatte er nicht gedacht. Nicht an die weiße Pappkiste, die mit silbernen Sternen beklebt war, deren Zacken sich aufrollten. Bilder aus der Zeit vor Helge. Zehn war er gewesen, als Ursula ihn kennengelernt hatte.
In einem Stapel alter Papiere fand Nicolai schließlich ein Bild, sie hatten es vor irgendeinem Weihnachten geschickt. Ursula saß in dem braunen Sessel, hinter ihr der ungeschmückte Tannenbaum, sie trug eine rote Fleecemütze, achteckig, ihr Hals dünn von der Chemo. Helge kniete auf dem Boden und hielt ihre Hand. Der Baum wartet stand hinten auf dem Bild in Helges Schrift, Nicolai war nicht hingefahren.
Er hatte das Bild eingepackt und den Zeitungsartikel. »Meine Mutter Ursula«, hatte er gesagt und Elsa Streml das Bild gereicht. Hatte ihr Gesicht beobachtet, sie lächelte, Grübchenstafette. »Wie nett.« – »Deine Tochter«, hatte er gesagt, »da war sie bereits krank.« Sie hatte ihm das Bild zurückgegeben, »seien Sie nicht albern« gesagt, nicht tadelnd, sie kicherte, als würde er tatsächlich scherzen. Elsa Streml sah sich nach dem Regal um. »Habe ich Ihnen«, sie wollte aufstehen, er hatte den Zeitungsartikel vor sie hingehalten, so, dass sie nichts anderes hatte tun können, als ihn zu nehmen. Das Papier tiefgelb, bräunlich beinah, die Schnittkante an einer Seite eingerissen, die einstmals schwarzen Partien des Fotos körnig dunkelgrau. Sie hatte den Artikel kurz angesehen, gelächelt, »warten Sie« gesagt und war aufgestanden. Sie war zu dem schmalen aufklappbaren Schreibtisch, Sekretär nannte sie ihn, gegangen, hatte die Lade geöffnet, die kleinen Schubladen aufgezogen, eine nach der anderen, bis sie fand, was sie suchte. Sie war zum Tisch zurückgekommen, in der Hand ein Stück Papier, glatt und hell, Schnittkanten intakt, der Artikel, sie legte ihn auf das Tischtuch, neben das Weihnachtsfoto. Findelkind wohlauf lautete die Überschrift. »Das Baby, das Erika gefunden hat«, sie deutete auf das Bild daneben. Erika trug eine Art Uniform, weiß, mit einer Haube, sie lächelte auf den Säugling in ihren Armen hinab, unter dem Bild stand Schwester Erika mit ihrem
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