Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
Angeklagten, der Zeugen oder der Sachverständigen festgehalten, noch auch nur eine grobe inhaltliche Zusammenfassung erstellt, wie es bei den Amtsgerichten (eine Tatsacheninstanz unterhalb der Landgerichte mit einer Strafgewalt von maximal vier Jahren) üblich ist. Das aber wäre unbedingt notwendig, um den Inhalt der Verhandlung festzuhalten, denn die Tatsachenfeststellungen des Landgerichts werden durch keine weitere Instanz mehr überprüft.
In vielen Verfahren gibt es inzwischen nur noch eine sogenannte Tatsacheninstanz, so zum Beispiel im Verfahren gegen Jörg. Das einzige Rechtsmittel gegen ein dortiges Urteil war die Revision, also ein Verfahren vor dem Bundesgerichtshof. Dort jedoch hätte sich das Gericht nur mit der Überprüfung der Verfahrensweise dieser Instanz beschäftigt und mit der Frage, ob die rechtliche Würdigung des Sachverhalts korrekt ist oder das Strafmaß fehlerhaft begründet. Und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs wäre allein aufgrund der erstinstanzlichen Urteilsfeststellungen getroffen worden – also nicht aufgrund von neuen Zeugenladungen oder Ähnlichem.
Dass es bei den Landgerichten keine Inhaltsprotokolle gibt, birgt mithin eine ganze Reihe von Fehlerquellen und Gefahren. Nicht selten kommt es dazu, dass Staatsanwalt und Verteidiger ein und denselben Zeugen in ihren Plädoyers mit völlig unterschiedlichen Sätzen zitieren, die der Zeuge schlimmstenfalls allesamt nicht gesagt hat, weil sich jeder Verfahrensbeteiligte auf seine eigenen, hastig mitgeschriebenen Aufzeichnungen verlässt oder gar auf sein Gedächtnis angewiesen ist, weshalb man sich im Zweifelsfall auf eine Version einigen muss. Es gibt keine objektive Quelle, auf die man zurückgreifen kann. Solchen Missständen könnten nur Video- oder Tonbandmitschnitte, mindestens aber ein Wortprotokoll abhelfen, das der Zeuge nach Erstellung seiner Aussage zur Durchsicht auf Fehler und zur Unterzeichnung ausgehändigt bekäme.
Die größere Gefahr des Fehlens einer nachvollziehbaren inhaltlichen Rekonstruktion der Hauptverhandlung liegt aber in dem »falschen Film«, den das Gericht in der schriftlichen Urteilsbegründung ablaufen lassen kann. Unüberprüfbar kann es einen Verfahrensverlauf zeichnen, der von dem abweicht, der tatsächlich stattgefunden hat. Es kann selektiv aus den Zeugenaussagen berichten oder der im eigenen Urteil erklärten richterlichen Überzeugung entgegenstehende Tatsachen einfach weglassen oder neue hinzufügen, sodass die nächsthöhere Instanz, die eigentlich als Kontrollinstanz agieren soll, keinerlei Möglichkeit hat, die Beweiswürdigung des Gerichtes objektiv und umfassend zu beurteilen. Schließlich weiß das Revisionsgericht nicht, ob ihm überhaupt alle Beweise präsentiert wurden. Das ist deshalb besonders schwerwiegend, weil diese »Tatsachenfeststellungen« – also das, was das Gericht ins Urteil schreibt, was es für Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung gewonnen hat –, für das Revisionsgericht wiederum bindend, also unumstößlich sind. Das heißt, wenn das erkennende Gericht in sein Urteil schreibt: Zeuge A hat gesehen, wie Zeuge B und Zeuge C gemeinsam das Haus verließen, so ist diese Feststellung für das Revisionsgericht bindend. Selbst dann, wenn kein Zeuge (weder Zeuge A noch irgendein anderer Zeuge) das jemals vor Gericht ausgesagt hat.
Richter sind leider keine andersartigen menschlichen Wesen, auch ihre Wahrnehmungen und Erinnerungsleistungen werden von dem geformt und gelenkt, was sie ihre »Überzeugung« nennen. In der Psychologie ist sehr viel über die Formung von Ansichten und Urteilen geforscht und eine große Anzahl von psychologischen Effekten gefunden worden, beispielsweise die Tendenz dazu, vorgefasste Meinungen und Ansichten selbst nach deren Widerlegung beizubehalten, statt sie zugunsten einer neuen Überzeugung aufzugeben und infolgedessen sogar Indizien, die gegen die eigene Hypothese sprechen, außer Acht zu lassen ( confirmation bias ). Ein anderes Beispiel ist die Theorie der Selffulfilling Prophecy. Nur sind diese Erkenntnisse den meisten Richtern vollkommen unbekannt, und daher können sie auch nicht gegen diese Phänomene arbeiten.
So gruppieren sich oft Aussagen, Fakten und Gutachten aus der Hauptverhandlung wie von selbst zu einem stimmigen Bild, das logische Fehler und Brüche nicht erkennen lässt. Ob dies nun bewusst oder unbewusst zur Rechtfertigung der wie auch immer getroffenen Entscheidung geschieht, lässt sich im Nachhinein nicht mehr
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