Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
den typischen Medienexperten oder Juraprofessoren, die gerne bei RTL Punkt 12 für zehn Sekunden zum Stand um Deutschland befragt werden, werden manche wahrscheinlich bereits als Affront auffassen. Dass die darin enthaltenen Gedanken auch noch systemkritisch sind, mag heftige Reaktionen hervorrufen, aber nach den letzten zwei Jahren halte ich das gerne aus.
Die ernüchternde Situation
Im Rahmen des Prozesses gegen Jörg sind viele Missstände offensichtlich geworden in Justiz und Medienlandschaft.
• Die beängstigende und bis auf wenige Ausnahmen völlig einseitige Berichterstattung der Presse, die die Unschuldsvermutung mit Füßen trat und kampagnenhaft die Stimmung der Bevölkerung zu beeinflussen suchte, sogar aktiv ins Ermittlungsgeschehen eingriff, indem sie geladene Zeugen mit Geld beeinflusste und selektiv und teilweise schlicht falsch aus den Ermittlungsakten zitierte.
• Die erschreckend schlechte Ausbildung von Juristen und Polizisten, deren Vorgehensweisen sich nicht nur in Einzelfällen, sondern an manchen Orten systematisch von unserer Gesetzgebung zu entfernen scheinen.
• Wissenschaftler, die so eng mit ihrem zweiten Arbeitgeber, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht, verbandelt sind, dass sie ihre Gutachten gegen ihre wissenschaftliche Erkenntnis für diese zurechtbiegen.
• Staatsanwaltschaften, die eine Pressepolitik betreiben, mit der sie sich nicht das selbst gewählte Prädikat der »objektivsten Behörde« verdienen, sondern eher den Beinamen »Kavallerie der Justiz« – und damit die Staatsanwaltschaften in den USA nur in ihren schlechtesten Seiten kopieren.
• Opferverbände, die ihren eigentlichen Auftrag oft vergessen zu haben scheinen, mit Spendengeldern einseitig Partei ergreifend in Ermittlungsverfahren eingreifen und ansonsten vornehmlich als Lobby für Nebenklageanwälte agieren.
• Gefängnisdirektoren, die Detektiv spielen wollen und zweifelhafte Vernehmungen von Mithäftlingen durchzuführen versuchen.
• Polizisten – denn niemand sonst kann es gewesen sein –, die Fotos aus der Polizeiakte kurz nach deren Entstehung an die Bil d -Zeitung weiterreichen oder verkaufen; und andere, die eine »Promi verhaftung« als Event zu betrachten scheinen, zu dem sie sogar Ver wandte mitbringen.
• Richter, die den Eindruck erwecken, lieber einen Unschuldigen zu jahrelanger Haft zu verurteilen, als zuzugeben, dass ein höheres Gericht zu Recht eine ihrer früheren Entscheidungen aufgehoben hat.
• Angebliche Frauenvertreterinnen, die sich selbst mithilfe der Bild zur Gerichtsreporterin hochschreiben (ohne überhaupt grundsätzliche Prinzipien der Justiz begriffen zu haben), die aber trotz ihrer angeblichen Tätigkeit als Gerichtsreporterin nur selten zu den Verhandlungstagen erscheinen und mitunter nur, um vor dem Haupteingang des Landgerichts Interviews zu geben und anschließend wieder zu verschwinden. Alles im Namen »der Opfer« und »der Frauen« natürlich, nicht etwa um den eigenen Popularitätswert kurz vor der Veröffentlichung der eigenen Autobiografie zu steigern und einen Grund zu haben, durch Talkshows zu tingeln.
Das alles hat sich zugetragen, und es wäre tatsächlich schon schlimm genug, wenn »der Fall Kachelmann« nur ein entgleister Einzelfall wäre, denn schon der müsste alle Menschen alarmieren, die an das Funktionieren des Rechtsstaats glauben.
Im Rahmen unserer Beschäftigung mit dem Thema sind Jörg und ich aber auf so viele vergleichbare Fälle gestoßen, dass wir zu der Überzeugung gekommen sind, dass sich Deutschland zumindest in Bezug auf die Verfahrensweise bei der Aufklärung von angezeigten Sexual- und Missbrauchsdelikten nicht mehr als Rechtsstaat verstehen kann. Auch in der Familienrechtsprechung zeigt sich Ähnliches, zumal diese leider immer häufiger mit Sexual- und Missbrauchsvorwürfen in Verbindung steht, wenn es um Unterhaltszahlungen und Sorgerecht geht. Denn die Waffe Falschanzeige ist scharf und effizient und erfreut sich wachsender Beliebtheit.
Das Problem ist also systemimmanent und nicht, wie gerne behauptet wird, eines, das speziell mit der Person Jörg Kachelmann zusammenhängt. Es war kein Ausrutscher von Justiz und Presse, kein »Zusammentreffen ungünstiger Umstände«, die man sonst so nicht antrifft. Nein, es ist einfach der allgemeine Zustand in Justiz und Medienlandschaft, der durch das Aufputschen und öffentliche Austragen dieses Falls offenbar geworden ist – und das war das einzig Gute daran: Die
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