Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
jeden ins Gefängnis schicken, der einem im Weg steht. Muss man einer »Frauenrechtlerin« totalitäre Absichten unterstellen, oder war Frau Schwarzer im Geschichtsunterricht immer Kreide holen?
Vor wenigen Jahrzehnten gab es beim Thema Sexualdelikte ebenfalls schier unüberwindbare vorgefasste Urteile – nur in umgekehrter Richtung, und das war nicht minder katastrophal. Wenn eine Frau damals einen Übergriff oder eine Vergewaltigung anzeigte, wurde ihr in der Regel mit übermäßigem Misstrauen begegnet, und nicht selten hat man ihr selbst bei plausiblen Schilderungen und Indizien für eine tatsächlich stattgefundene Straftat entweder nicht geglaubt, ihr Schicksal bagatellisiert oder ihr gar selbst die Schuld zugeschrieben. Durch zu aufreizende Kleidung und Schminke hätte sie den Mann geradezu zu einem Übergriff provoziert – solche Argumente wurden nicht selten angeführt, um eine Verfahrenseinstellung oder Strafmilde rung zu erreichen. Für jede Frau (und jedes Kind und jeden Mann), die einem solchen Verbrechen zum Opfer fällt, ist das eine Katastrophe, denn Missbrauch und Vergewaltigung, sei es durch die eigene Familie, Vertrauenspersonen oder einen Wildfremden, sind massive Eingriffe in das Leben eines Menschen, und manche Betroffenen haben selbst bei effektiver psychotherapeutischer Unterstützung ihr ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen.
Ein Gerichtsprozess, der den Täter zwingt, sich für seine Taten öffentlich zu verantworten, kann helfen, sich von der eigenen Scham und von Schuldgefühlen zu befreien. Er kann dazu beitragen, dass die Betroffenen begreifen, dass das, was ihnen zugestoßen ist, Unrecht war. Er kann ihnen verstehen helfen, dass sie zu diesem Unrecht weder beigetragen haben, noch dass ihre Persönlichkeit und ihr Selbst dafür verantwortlich sind, dass ausgerechnet ihnen dieses Unrecht zugestoßen ist.
Wie schwer es ist, einen Missbrauch zu verarbeiten und seine eigene Persönlichkeit von dem Missbrauchsgeschehen zu trennen, konnte man bei dem Prozess um den Familienvater beobachten, der sich im Februar 2011 vor Gericht verantworten musste und verurteilt wurde, weil er jahrelang seine eigenen Kinder missbraucht und teilweise sogar zur Prostitution gezwungen hatte: Eine seiner Töchter umarmte weinend ihren Vater außerhalb der Verhandlung und zögerte vorerst, gegen ihn auszusagen.
Ein Gerichtsverfahren und eine Verurteilung sind allerdings kein Therapieersatz. Mit einem juristischen Verfahren lassen sich die durch die Straftat bei einem tatsächlichen Opfer tangierten und gestörten Lebensbereiche nicht umfassend wiederherstellen. Trotzdem fordern »Opferverbände« das unablässig von den Richtern ein und üben damit Druck auf diese aus, doch endlich »opferorientiert« zu verhandeln (die Opfer von Falschbeschuldigungen meinen sie damit natürlich nicht, denn die gibt es ihrer Meinung nach ja nicht).
Ein strafrechtliches Urteil ist kein Instrument der Wiedergutmachung und kann und darf es auch nicht sein. Einerseits, weil die Folgen einer Straftat für deren Opfer sowieso in den meisten Fällen viel zu komplex und individuell sind, als dass an der Allgemeinheit orientierte regelgeleitete Konstrukte wie Gesetzgebung und Verfahrensvorschriften ihnen gerecht werden könnten. Und andererseits, weil dann die Gefahr heraufbeschworen wird, dass Gerichte auch von echten Opfern als Racheinstrumente benutzt werden.
Opfer einer Straftat zu sein macht einen Menschen nicht zu einem besseren Menschen als andere. Auch »schlechte« Menschen können Opfer werden und »gute« Menschen können Täter sein, eine Tatsache, die aus Angst, moralisch unkorrekt zu erscheinen, oft selbst von Gerichten, Psychologen und Staatsanwälten, besonders aber von den Medien gern vergessen wird. Plötzlich sind selbst kriminelle Verfehlungen in den Lebensläufen mutmaßlicher Opfer verzeihlich und verständlich, man denke nur an Nafissatou Diallo, das Zimmermädchen im Strauss-Kahn-Verfahren in New York; hätte man umgekehrt sol che Verfehlungen dem Tatverdächtigen nachgewiesen, wären sie als Zeichen einer verwerflichen Lebensführung erkannt und als ver dachtsbestärkend gewertet worden.
Einheitliche Maßstäbe bei der Bewertung einer sogenannten Lebensführungsschuld von mutmaßlichem Täter und mutmaßlichem Opfer scheint es besonders bei Sexualdelikten nicht zu geben, wo man nicht selten in die Intimsphäre von Menschen vordringt und damit an die Grenzen jedenfalls der öffentlichen Moral gelangt. Jedes
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