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Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)

Titel: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kachelmann , Miriam Kachelmann
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und den Altar ansehend, nur Pfarrer Ding irgendwo schräg hinter mir in den Bänken sitzend. So viel Zeit in einem großen Raum, so viel Raum für alle Gedanken und die Erkenntnis der eigenen Wehrlosigkeit gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt. Allein mit Pfarrer Ding und, so kam es mir an jenem heißen Juniabend vor, mit Gott. Das einzige Mal im Knast, an dem ich für ein paar Minuten die Fassung verlor, aber es werden nicht die ersten Männertränen gewesen sein, die Pfarrer Ding gesehen hat.
    Ich begann, morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Einschlafen zu beten, und tue es bis heute. Ein Mithäftling aus dem vierten Stock gab mir in jener Zeit sein selbst gebasteltes Jesusbild, das er in einen Quarkschachteldeckel eingepasst hatte, mit den russisch-deutschen Worten: »Für mich war gut, brauchst du jetzt mehr als ich.«

    Die Solidarität durch Mitgefangene war wichtig zum Überleben. Dazu gehörten individuelle Aufmunterungen wie eine Geburtstagskarte und religiöse Devotionalien wie auch eine Tespi, die ein türkischer Mitgefangener für mich gebastelt hat.
    Er war einer der Kumpels, die von Anfang an von meiner Unschuld überzeugt waren, und mein kleiner Hausaltar mit verschiedenen Fotos, Bildern und Devotionalien hat mich seither jeden Tag an jeden Ort begleitet, an dem ich seitdem war.

Knastleben im Sommer
    Mitschänzer René und ich haben in unserer Amtszeit versucht, mit verschärfter Höflichkeit und viel »Bitte« und »Danke« und »Guten Appetit« in allen vorhandenen Sprachen den Zusammenhalt auf dem Stockwerk zu verbessern. Vor allem bei Hitzelagen im Sommer (im WM -Juli 2010 waren es tagsüber vierzig Grad in den Zellen, nachts nicht unter dreißig) sind die Nerven etwas angespannter, und es kommt leichter zu Raufereien und Schlägereien auf dem Stockwerk – eine ungute Sache, denn sie führen zur Lagerbildung, und die Spannung, die immer zu spüren ist, macht das Knastleben noch schwieriger. Wir haben über die rund hundertfünfundzwanzig Tage gemeinsamen Arbeitens gute Erfahrungen mit deeskalierender Höflichkeit gemacht, und wenn jemand auf unserem Stockwerk in eine Problemsituation kam, passierte das mit Leuten aus anderen Stockwerken.
    In den ersten Tagen habe ich es nicht gepackt, mich der gesamten Gruppendynamik zu stellen, letztendlich auch den Paparazzi. Ich war durch die Anstaltsleitung vorgewarnt worden, dass Teile des Hofs von Häusern außerhalb einsehbar sind, und ich wusste, dass es Journalisten gab, die sich von einer Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte nicht bremsen lassen würden. Am Anfang hat mich die Aussicht, von einem Fotografen abgeschossen zu werden, noch gehemmt; als mich meine Kumpels vom dritten Stock dann doch überredet hatten, ins Freie zu kommen, bin ich erst mal nur in einer Hälfte des Platzes im Kreis gelaufen. Gegen Ostern war mir das aber egal, und ich nahm es in Kauf, fotografiert zu werden (hoffte aber gleichzeitig auf Restanstand im Springer Verlag, ich Depp). Axel Cäsar ist ja tot, und es scheint dort niemand mehr zu leiden wie ein Hund, wenn er die Bild -Zeitung liest.
    Die Hofgänge waren am Anfang sehr anstrengend, weil mir fast jeder berichten wollte, was er im Fernsehen gesehen hatte. Genau das wollte ich nun wieder nicht wissen; ich hatte ja beschlossen, nicht einmal rumliegende Zeitungen oder irgendwelche Fernsehbeiträge über mich anzusehen. Wie ich nachträglich festgestellt habe, war das angesichts der geballten gesendeten und geschriebenen, meist nicht der Wahrheit verpflichteten Staatsanwaltschaft, teils von oft verlogenen Medien orchestrierten Vorverurteilungskampagne eine sehr, sehr gute Idee. Ich weiß jetzt auch, warum mir das höhere Knastpersonal (das über 1 900 Euro netto verdient) am Anfang so reserviert gegenüberstand: Die haben ernsthaft geglaubt, dass ich es war.
    Die Knastkumpel und Stockwerksbeamten hatten da ein besseres Gespür und einen ausgeprägteren Menschenverstand. Sie merkten früh, dass ich keinen Schalter habe, der sich irgendwie umlegen lässt, auch der legendäre eiskalte Blick ist mir immer noch nicht gelungen, und den Hang zur Gewalttätigkeit muss ich erst noch entwickeln – drei zentrale Lügen aus dem Dinkel-Repertoire, die durch erzählfreudige weitere Ex-»Freundinnen« leicht variiert wurden, weil es so schön allgemein war. Fürs Protokoll: Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie gewalttätig geworden, kann nicht mal rumschreien oder richtig wütend werden. Aber ich habe gelernt, dass es

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