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Rechtsdruck

Rechtsdruck

Titel: Rechtsdruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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Sex zwischen ihnen
stattfinden könnte, als aus dem kleinen Lautsprecher an seinem Ohr ein leises Piepsen
erklang.
    »Ich muss kurz Schluss machen«, unterbrach er sie, »da klopft jemand
in der Leitung an. Aber ich melde mich, sobald die Luft wieder rein ist.«
    Der Praktikant drückte auf eine Taste des klobigen Telefons neben dem
Monitor und meldete sich. Seine Füße lagen noch immer auf der Schreibtischplatte.
»Onlineredaktion, Frey, guten Tag.«
    Diesmal war es die Ressortleiterin, also die Chefin von Freys Chef.
»Was läuft denn bei Ihnen ab, Herr Frey?«, wollte sie aufgebracht wissen.
    »Guten Abend, Frau Dingel«, erwiderte er rasch, ließ dabei die Füße
zurück auf den Boden fallen und richtete sich ungelenk auf. »Äh, ich weiß jetzt
nicht so ganz genau, was Sie meinen.«
    »Was ich meine?«, fauchte sie. »Was ich meine, wollen Sie wissen? Ich
meine die gerade die 8000er-Marke überschreitenden, teilweise unappetitlichen, teilweise
einen Straftatbestand erfüllenden Kommentare, die von unserer Onlineredaktion unkontrolliert
ins World Wide Web entlassen werden. Das meine ich.«
    Frey drehte den Kopf und starrte wie versteinert auf den Monitor. Dort
überschlugen sich tatsächlich die Ereignisse.
    »Ich«, setzte er zu einer Entschuldigung an, doch der untaugliche Versuch
wurde von Regine Dingel gnadenlos abgebügelt.
    »Schalten Sie auf der Stelle die Kommentarfunktion für diesen Artikel
ab«, brüllte sie ihn an. »SOFORT!«
    Frey begann auf der Tastatur herumzuhämmern, aber es dauerte insgesamt
noch weitere drei Minuten, bis er ihren Auftrag tatsächlich ausgeführt hatte.
    »Danke«, murrte sie tonlos in den Hörer.
    »Sehr gerne«, gab er erleichtert zurück.
    Regine Dingel ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe sie weitersprach.
Sekunden, die Peter Frey wie eine Ewigkeit vorkamen.
    »Und nun«, zischte sie schließlich, »kommen Sie unverzüglich in meinem
Büro vorbei und bringen mir Ihre Schlüssel und Ihre Zugangskarte fürs Gebäude. Und
dann will ich Sie hier nie mehr sehen. Verstanden?«
    Er schluckte. »Aber Frau Dingel …«, wollte er einwenden, aus dem kleinen
Lautsprecher an seinem Ohr drang jedoch nur noch ein leises Rauschen, das ein paar
Sekunden später von einem grellen Piep-Piep-Piep abgelöst wurde.

27
     
    Erich Zeislinger, der Oberbürgermeister der Stadt Kassel, saß zurückgelehnt
und mit geschlossenen Augen in seinem Bürodrehstuhl. Seine Gesichtszüge wirkten
entspannt, ja fast gütig, doch dieser Eindruck trog. Zeislinger hielt noch immer
die Fernbedienung in der Hand, mit der er einige Minuten zuvor den Fernseher neben
der Tür zu seinem Büro ausgeschaltet hatte. Die Bilder und die Worte des Mannes
vor den Kameras und Mikrofonen der Reporter, die wieder und wieder durch seinen
Kopf waberten, hatten in ihm, dem alten, überaus erfahrenen Politikdinosaurier,
das nackte Entsetzen ausgelöst.
    Justus Gebauer also. Justus Gebauer, dieser drittklassige populistische
Schmierenkomödiant, dieser beschissene Emporkömmling, erdreistete sich, ihn bei
der OB-Wahl herauszufordern. Erich Zeislinger konnte, obwohl er nach außen hin weiterhin
ruhig und besonnen wirkte, seine Wut kaum noch im Zaum halten.
    Justus Gebauer. Jener Justus Gebauer, dem er, Erich Zeislinger, die
ersten Schritte in der Politik überhaupt erst ermöglicht hatte. Er war schon Vorsitzender
seiner Partei in Kassel und Nordhessen gewesen, als dieser undankbare Schmarotzer
noch in die Windeln geschissen hatte. Und jetzt forderte er ihn, seinen eigentlichen
politischen Ziehvater, heraus.
    Ich fasse es nicht, dachte er.
    Bei all seiner grenzenlosen Wut über Gebauer war Zeislinger allerdings
politischer Realist genug um zu wissen, dass die unerwartete Kandidatur eine riesengroße
Gefahr für seine Wiederwahl darstellte, dass, sollte es wirklich dazu kommen, seine
Wiederwahl mehr als gefährdet wäre. Speziell nach dieser verfickten Pressekonferenz
von vorhin.
    Etwa ein Vierteljahr zuvor hatten ihn die Delegierten auf einem extra
einberufenen Nominierungsparteitag mit mehr als 95 Prozent auf das Kandidatenschild
gehoben.
    95 Prozent!
    Natürlich war die Wahl kein Selbstläufer, aber natürlich würde er sie
gewinnen, auch, weil der Herausforderer der anderen großen Partei ein Verlegenheitskandidat
war, der für den plötzlich und unerwartet an Krebs erkrankten und mittlerweile gestorbenen
Stammkandidaten eingesprungen war. Ein Bürschchen, wie Zeislinger ihn im kleinen
Kreis gerne nannte, jung, gebildet und

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