RECKLESS HEARTS
auf die anderen Männer und hatte nicht vor, einen Parkplatz zu suchen.
Regen setzte ein.
Selin hob ihr Gesicht prüfend gen schwarzen Nachthimmel, um abzuschätzen, ob es bei den paar wenigen Tropfen bleiben würde, doch dem war nicht so. Ein energischer Platzregen prasselte nun auf sie herab, als wolle er sie davon abhalten, weiter zu gehen. Nach wenigen Sekunden war sie bereits so durchnässt, dass die Kälte ihr ernsthaft zuzusetzen begann. Sie stellte sich schützend im nächsten überdachten Hauseingang unter. Von dort spähte sie möglichst unauffällig zum Minivan und zu ihrem Haus hinüber, während sie am ganzen Körper zu zittern begann.
Sie wartete und hoffte, dass der Wagen mit oder ohne die drei Männer, die ausgestiegen waren, endlich wegfahren würde, damit sie sich nähern konnte.
Nur ein Blick aus nächster Nähe hinauf zu ihrer alten Wohnung, ihrem Fenster und ihrem Balkon, ein innerlicher Abschiedsgruß und sie würde wieder verschwinden. Sie wusste, sie brauchte und sie wollte diesen Abschied unbedingt, und sie würde ihn sich von nichts und niemandem nehmen lassen. Im nächsten Moment jedoch spürte sie voller Sorge, dass sich unweigerlich tiefe Verzweiflung in ihr breitmachte, eine ihr vertraute und gleichzeitig gefürchtete Empfindung, gegen die sie sich nicht wehren konnte.
Selin konnte dem plötzlichen Gefühl unendlicher Einsamkeit nichts entgegensetzen, ihre Seele schmerzte, als würde sie von einer bösen, überirdischen Macht zusammengepresst werden. Ein abrupter Weinkrampf bemächtigte sich ihrer und rüttelte mit aller Heftigkeit an ihrem Mut, ihrer Entschlossenheit und ihrem Stolz, als hätte sie kein Recht auf diese Eigenschaften. Tränen liefen über ihre kalten Wangen, ihr Schluchzen klang befremdlich in ihren eigenen Ohren, und Selin kam sich unendlich hilflos und verletzlich wie ein kleines Kind vor, ein Waisenkind, das sich in einem finsteren Labyrinth verirrt hatte, und das nie mehr einen Ausgang aus dieser unheilvollen Dunkelheit finden würde.
Doch wenige Sekunden später wurde ihre Aufmerksamkeit erneut auf das Geschehen am Minivan gelenkt. Selin hörte sofort auf zu schluchzen, holte tief Luft, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht - reiß dich zusammen! -, sammelte sich und beobachtete konzentriert, wie die drei Männer aus dem Haus kamen. Sie bewegten sich seltsamerweise wie in Zeitlupe.
Von irgendwo aus weiter Ferne drangen Feuerwehrsirenen zu ihr durch und verloren sich wieder.
Selins Puls raste, aber sie hatte sich gefangen, presste ihre Umhängetasche fest an ihren Körper, erinnerte sich, dass sie sich etwas schuldig war, und dass sie es sich holen musste.
Zwei der Männer trugen eine Kiste oder etwas Ähnliches, die sie im Kofferraum verstauten, während der dritte bereits in den Wagen einstieg.
Okay, sie würden gleich losfahren und weg sein.
Selin trat unauffällig aus ihrem Unterschlupf hervor und lief mit gesenktem Kopf langsam die Straße weiter aufwärts.
Allerdings musste sie diesmal in einem äußerst lahmen Tempo gehen, ob sie wollte oder nicht, denn der Straßenbelag war spiegelglatt geworden. Sie war gezwungen, jeden ihrer Schritte vorsichtig zu setzen, da der Boden unfassbar rutschig war. Eine feste Eisschicht hatte sich in der kurzen Zeit, in der sie im dunklen Hauseingang vor dem Regen geschützt gewartet hatte, darauf gebildet.
Die ganze Situation mit dem Blitzeis war so unerwartet eingetreten, dass Selins Konzentration notgedrungen ihrer sicheren Fortbewegung galt, aber ihr innigstes Bedürfnis steuerte klar und zielbewusst ihre Schritte und trieb sie weiter an.
Sich in einem symbolischen Akt von den Geistern ihrer Kindheit, den unergründlichen, diffusen Gefühlen und nebulösen Erinnerungen an lang vergangene Zeiten zu verabschieden, um … etwas Neues beginnen zu können? ... war der einzige Wunsch, den sie zu diesem Zeitpunkt verspürte, und dazu brauchte sie die physische Nähe zu ihrem einstigen Zuhause, das sie trotz aller seelischer Erschütterung, als ein warmes und schützendes in ihrem Gedächtnis abgespeichert hatte.
Selin hörte, wie der Motor des Minivans gestartet wurde, blieb daraufhin stehen und hob vorsichtig den Kopf, um zu sehen, ob er losfuhr. Sie war nun auf der Höhe der Weserstraße, die quer zur Weichselstraße verlief, sie musste sie lediglich überqueren und dann noch etwa fünfzig Meter weiter gehen, bis sie ihr Ziel erreicht haben würde.
Erleichtert registrierte sie, dass sich der ominöse Wagen
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