RECKLESS HEARTS
als hätte man sie mit einer gehörigen Ladung eiskaltem Wasser aus dem Tiefschlaf gerissen. Ihre Sinne schärften sich und ihre Gedanken kreisten mit einem Mal im Orbit einer ganz anderen möglichen Katastrophe.
Nach weiteren zehn Tagen, die sie wie in Trance verbrachte, erhielt sie die Bestätigung ihrer Schwangerschaft schriftlich in Form von eindeutigen Blutwerten und mündlich in einer nett formulierten Glückwunsch-Rede ihrer Ärztin.
Da sie weder in Jubel, noch in Tränen ausgebrochen war, wurde sie schnell zur Sprechstundenhilfe weitergereicht, um die nötigen Kontrolltermine für die nächsten neun Monate zu vereinbaren.
Von da an schwieg sich Sylvie tiefer in ihre Isolation, verzog sich weiter in ihre dunkle Höhle und sprach auf Arbeit nur noch, wenn es gar nicht anders ging. Gedanken an Shane ließ sie, mit dem eisernen Willen, keine weitere Träne mehr zu vergießen, nur noch ganz vorsichtig zu. Die Gedanken an das winzige menschliche Wesen in ihrem Körper jedoch nahmen, wie ihr stetig wachsender Bauch, zunehmend mehr Raum in ihrem kleinen Leben ein.
Und eines Sonntagmorgens im Dezember, vier Monate nach Irland, wachte Sylvie das erste Mal wieder mit einem Lächeln auf. Sie streichelte ihren runden Bauch und spürte in sich hinein. Es hatte sich bewegt, ja ganz gewiss, und sie hatte es gespürt, das … Menschlein … ihr Baby … Es hatte sich bewegt! Es lebte tatsächlich da drin … in ihr, und Sylvie wusste mit einem Mal ganz ohne Zweifel, dass sie dieses Wesen lieben könnte. Ja, sie würde es lieben. Sie konnte lieben!
Draußen schneite es dicke, dichte Schneeflocken, Weihnachten stand vor der Tür, und Agnes hatte mittlerweile ihren Schock und ihre Scham überwunden, hörte nicht mehr auf die pessimistischen Prognosen ihres Gatten, Sylvies mürrischen Stiefvater. Sie hatte den Kontakt mit ihrer vom rechten Pfad der Tugend abgekommenen Tochter wieder aufgenommen und ihr ernstgemeinte Hilfe angeboten.
Sie hatte nicht erfahren, wer der Vater ihres ungeborenen Enkelkindes war - Sylvie schwieg darüber - aber Agnes hatte auch nie darauf gedrängt, es zu erfahren, ganz so, als gäbe es auf diese Weise tatsächlich keinen Vater, als hätte Sylvie ihr Kind unbefleckt empfangen wie Mutter Maria ...
Weder Agnes noch irgendjemand sonst sollte jemals von Shane McCaun erfahren, das stand für Sylvie fest. Sie würde seinen Namen als ihr ureigenes Geheimnis hüten, und er würde für immer nur ihr gehören. Er war ihr ganz persönlicher Schmerz und auch das Brandmal auf ihrem Herzen, das niemand sehen durfte, nicht mal das Kind, das sie gebären würde.
Und an diesem Sonntagmorgen beschloss Sylvie Böller, ihr kleines Baby, sollte es ein Junge werden, Alexander zu nennen, denn er würde sie beschützen und fremde Männer abwehren, so wie es die Bedeutung seines Namens verlangte.
»Mein kleiner Alex«, flüsterte sie liebevoll, nur um zu sehen, wie es sich anfühlte.
Dezember 2005 Berlin
Alex saß angeschnallt auf dem Fahrersitz des Minivans, knetete die Hände und hauchte anschließend warme Atemluft in seine Fäuste. Schweigsam wartete er darauf, dass jeder seinen Platz einnahm und startklar war.
Atilla saß auf dem Beifahrersitz und sah mit angespannter Miene auf seine Digitalarmbanduhr, die grün leuchtete und Pieptöne von sich gab, wenn er irgendwelche Knöpfe drückte. Dann drehte er sich halb nach hinten, um zu sehen, ob Niklas und Jimmy auf ihren Plätzen angeschnallt waren und den letzten Anweisungen zuhörten.
»Kitt, Niklas, Jimmy! Es geht los. Handys sind aus?«
Alle nickten.
»Ich möchte, dass jeder im Kopf noch mal seinen Part durchgeht und checkt, ob ihm etwas unklar ist!«
Atilla ließ fragend den Blick umherspringen und blieb bei Alex hängen: »Auch bei dir alles klar, Kitt?« Mit der linken Faust gab er ihm einen leichten Punch auf den Oberarm. Er hatte definitiv einen Narren an diesem Burschen gefressen.
»Wir verlassen uns auf dich!«
Alex lächelte schief und angestrengt, ohne seine Augenpartie mit einzubeziehen, und sah durch die leicht beschlagene Windschutzscheibe auf die Straße vor sich. Ihm war klar, dass er sich diesmal auf eine wirklich riskante Sache eingelassen hatte, die völlig schief laufen konnte, auch wenn Atilla Zweifel nicht zuließ, auch wenn sie tatsächlich die ‚Crime Artists‘ waren.
Er musste Atilla und den beiden anderen Kerlen vertrauen, obwohl er sie eigentlich gar nicht wirklich kannte. Und er musste sich darauf verlassen, dass
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