RECKLESS HEARTS
er seinen Anteil wie versprochen bekommen würde. Doch wenn alles gut ging, ja, wenn alles gut ging, verdammt, dann wären er und seine Mutter mit einem Schlag die ganzen Schulden los und … frei … Und vielleicht würden sich endlich die ewigen Gewitterwolken, die schwer über ihren Leben hingen, verziehen.
Er war bereit, alles dafür zu tun.
Es war exakt 1 Uhr 29 und unangenehm kalt. Obwohl nach einer längeren Frostperiode die Temperatur einige Grade über null angestiegen war, vermittelte die hohe Luftfeuchtigkeit ein Kältegefühl, als wären es Minusgrade.
»Schweinekalt hier drin!« Jimmy zog demonstrativ seine schwarze Wollmütze tiefer in die Stirn und blickte zu Niklas mit der Erwartung irgendeiner Art Zustimmung. Niklas nickte kurz und brummte ein »Mhm«. Atilla ließ wieder seine Armbanduhr aufleuchten, und als sie 1 Uhr 30 anzeigte, gab er per ausgestrecktem Zeigefinger das Startzeichen für Alex, der daraufhin den Motor startete, den Gang einlegte, die Kupplung kommen ließ und den Minivan mit dem Ziel Weichselstraße in Neukölln in Bewegung setzte.
***
Hatte Neukölln früher, als Selin noch ein Kind war, nicht ganz wunderbar gerochen? Sie versuchte, sich an die damaligen Gerüche zu erinnern: das frische Fladenbrot mit duftendem Schwarzkümmel darauf, die knusprigen Sesamringe aus der kleinen türkischen Bäckerei um die Ecke, die schwarzen und grünen Oliven hinter der Frischwarentheke des Lebensmittelladens mit dem schönen Namen »Balbadem«. Die frische Petersilie, die aussah wie ein üppiger, grüner Blumenstrauß und bei jedem Einkauf ihrer Eltern ein Muss war, hatte Selin immer an das Gemüsebeet ihrer Oma in der Türkei erinnert. Der Duft von Kolonya im Wohnzimmer ... und in der Küche verströmten Pfefferminz, Oregano, Cumin und Paprikapulver auf der Gewürzablage ihr Aroma um die Wette. Und immer dasselbe Waschmittel im Bad neben der Waschmaschine, die Olivenölseife aus der Türkei, die jeden Sommer ganz sicher irgendein Bekannter aus dem Urlaub mitbrachte und ihren Eltern schenkte.
Doch ein ganz bestimmter Geruch hatte sich, zusammen mit einem intensiven, zwiegespaltenen Gefühl, in ihr Gedächtnis eingebrannt: … der Duft des langersehnten ersten Wagens ihres Vaters, ein brandneuer Ford Fiesta MK2, ozeanblau, mit dem sie gleich am ersten Tag bis zum Wannsee gefahren waren. Er hatte so vielversprechend gut gerochen, wie nur wirklich neue Wagen riechen können: nach Wohlstand, Sicherheit, Glück und einer verheißungsvollen Zukunft. Selin hatte diesen Geruch sofort geliebt, da war sie neun Jahre alt, und als sie wenig später zehn wurde, hatte der Fiesta seinen süßlich frischen Duft bereits verloren.
Wo ist der Duft bloß hinverschwunden? , hatte sich die kleine Selin immer wieder traurig gefragt.
Selin wurde durch ein sich von hinten näherndes Fahrzeuggeräusch aus ihren tiefen Gedanken gerissen. Da sonst keine anderen Autos unterwegs waren, drehte sie ihren Kopf kurz über die rechte Schulter herum, um zu checken, was da angefahren kam und in welche Richtung es wollte. Sie sah einen schwarzen Minivan herannahen, und als er mit mäßigem Tempo an ihr vorbeifuhr, dachte sie sich nichts dabei, sah dem Wagen aber sicherheitshalber hinterher.
Der Minivan fuhr geradeaus weiter, fast bis er außer Sichtweite war, machte dann aber einen U-Turn und fuhr langsam circa fünfzig Meter in die Richtung, aus der er gekommen war. Selin verlangsamte ihre Schritte und beobachte, nicht ohne einen gewissen Hauch von Skepsis, die Szenerie. Das Fahrzeug hielt in zweiter Spur, was aufgrund der großzügigen Breite der Weichselstraße keine Behinderung für andere Fahrzeuge darstellen würde. Selin sah, wie drei dunkel gekleidete Männer ausstiegen und gemeinsam, scheinbar ohne besondere Eile, in dem Haus, vor dem sie gehalten hatten, verschwanden.
Es war ihr Haus! Das Haus ihrer Eltern, ihrer Kindheit und ihrer verblassenden Erinnerungen, sie war sich ganz sicher! Aus der Fahrerseite war niemand ausgestiegen, das hatte sie mitgekriegt. Der Fahrer musste folglich noch im Wagen sitzen.
Selin war das Ganze irgendwie nicht geheuer und sie beschloss, die Straßenseite zu wechseln und möglichst unauffällig im langsamen Tempo weiterzugehen. Es waren noch etwa hundert Meter, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Wagen und ihrem Haus sein würde, aber vielleicht würde der Wagen bis dahin schon wieder weggefahren sein, denn offensichtlich wartete der Fahrer auf irgendetwas, vermutlich
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