RECKLESS HEARTS
Mädchenhaftes, Unschuldiges an sich, das ihn jedes Mal berührte, wenn er sie ansah. Mit ihrer selbstgefälligen Hilflosigkeit und ihren irrationalen Ängsten hatte sie ihn am Wickel und ließ ihn immer wieder im Glauben, dass sie ohne ihn durchdrehen würde.
Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er diese gewaltige Verantwortung gespürt. Er war konditioniert darauf, auf sie achtzugeben, möglichst jeden ihrer Gesichtszüge richtig zu interpretieren ... ihre Verbindung zur Außenwelt, zum Leben zu sein.
Nur Fragen nach seinem Vater durfte er nicht stellen!
Dieses Tabu saß tief und fest wie ein permanentes Implantat.
Als er bei der Einschulungs-Feier seiner Grundschule in der überfüllten Aula zwischen Oma Agnes und seiner Mutter eingequetscht gesessen und unruhig mit den Beinen gezappelt hatte, vermisste er seinen gesichtslosen Vater das erste Mal in vollem Bewusstsein. Er vermisste ihn so schmerzvoll, als hätte er ihn just an diesem Tag für immer verloren.
In seiner Kleinjungen-Fantasie war Alex‘ Papa oft ein Superheld, manchmal ein raffinierter Bösewicht, aber immer ein sehr entschlossener Einzelgänger gewesen, jemand, der stets den Horizont anpeilte und nicht zurück schauen durfte. Und deswegen sah Alex auch nie sein Gesicht.
Die ein Leben lang erfolgreich unterdrückte Sehnsucht nach diesem einen Gesicht hatte sich in letzter Zeit Bahn gebrochen und rüttelte wild geworden an seinem Seelenheil. Hinzu kam die Starrheit seines Lebens, die sich weder durch einen halsbrecherischen Teufelsritt auf dem Motorrad noch durch die Arbeit an seinem Computerspiel-Projekt aufbrechen ließ. Bei Letzterem steckte er seit Wochen fest und hatte keine wirklich zündenden Ideen, die ihn voranbrachten. Entsprechend fern war die finanzielle Entlohnung für die nächtlichen Arbeitsstunden vor dem Bildschirm gerückt. Immerhin, die Nerd-Truppe von ‚Games Independent‘ drängte wenigstens nicht, nicht wirklich, drängte nur ein bisschen, wollte schließlich den Durchbruch auf dem Computerspiele-Markt schaffen, aber ohne Alex ging gar nichts, also warteten auch sie ...
So gesehen waren ihm die ‚Crime Artists‘ zum richtigen Zeitpunkt »passiert«, und er war zum Glück auf das Angebot eingegangen, auch wenn er das kriminelle Milieu im Grunde seines Herzens verabscheute.
Jetzt saß er vor einem Batzen Geld, dessen Zweck die Mittel geheiligt hatte, und Sylvie konnte mit dem Kopfschütteln nicht aufhören. »Oh, Alexander!«, wiederholte sie ständig, bis sein Handyklingeln sie zum Schweigen brachte ...
Aus der Nummernanzeige schien er nicht schlau zu werden: »Ja?«, meldete er sich vorsichtig.
Sylvie beobachtete mit Erstaunen, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Sohnes mit einem Mal erhellte.
»Hey, Selin, von wo rufst du an?«, fragte er mit einer äußerst melodiösen Stimme.
Die Ohren seiner Mutter spitzten sich.
Aus Alex‘ seltsamen Antworten und diesem fremdländisch klingenden Namen, den er so flott über die Lippen gebracht hatte, schlussfolgerte sie - wie immer viel zu schnell - ihr persönliches Unheil, wartete ungeduldig, bis sein Telefonat beendet war, und setzte ihre Panikstimme ein: »Du gehst doch nicht etwa schon wieder weg, Alex? Und wer ist diese Selin überhaupt? Ist das jemand, den du kennengelernt hast? Bist du deshalb nachts nicht nach Hause gekommen und hast mich hier allein gelassen mit der schlimmsten Erkältung meines Lebens?«
»Mama, bitte«, sagte er mit so viel Zärtlichkeit in der Stimme, wie er aufbringen konnte. »Ich besorg dir gleich was aus der Apotheke, koche dir einen Kamillentee, und dann hole ich eine Bekannte vom Flughafen ab.«
»Und wer ist diese Person ?« Sie setzte ihr Makaken-Gesicht auf: wie, wo, weshalb und warum ich?
»Eine Bekannte eben. Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten. Ich weiß aber nichts Genaues. Bitte, frag sie nicht aus, ja? Keine persönlichen Fragen! Sie ist etwas durcheinander und braucht eine vorübergehende Bleibe. Du hast doch nichts dagegen, oder?«
Sylvie rümpfte die Nase. »Und wenn doch, was dann?«
Er legte lächelnd den Kopf schief. »Dann wäre das nicht sehr nett und untypisch für dich, denn du bist eigentlich ein lieber, hilfsbereiter Mensch, Mama, ich weiß das ...«
»Ach, Alex ... Und wo packst du das viele Geld jetzt hin?«
Er stand auf und stopfte die Geldbündel zurück in den Rucksack.
»Welcher Flughafen ist es denn?«, wollte sie nun wissen.
»Tegel.« Eilig verschwand er mit dem Rucksack in sein Zimmer.
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