RECKLESS HEARTS
Sie rief ihm mit ihrer angeschlagenen Stimme hinterher: »Und deine ... Bekannte ... Ist sie nett? Magst du sie?«
Kurz darauf stand er im Türrahmen, während er seine Motorradjacke überzog. »Ich weiß nicht, vielleicht ...«
Mit Wehleidigkeit getrübten Augen schnäuzte sie sich die Nase und holte tief Luft. »Was ist das für eine Antwort, Alex? Vielleicht? ... Heißt das, du kennst diese Frau gar nicht richtig?« Sylvies maßlose Sorge, ihren Sohn an eine niederträchtige Person zu verlieren, legte ihre Stirn in tiefe Falten und verschmälerte ihre Lippen zu einem Strich.
Sie musterte ihn schwermütig.
Sein Anblick fuhr ihr plötzlich wie ein Stromschlag durch verbotene Erinnerungen. Wie er sich entwickelt hatte, vom Scheitel bis zur Sohle Shane , dachte sie nicht zum ersten Mal.
»Ich hol jetzt deine Medis, Mama, bin gleich wieder da.«
Er beeilte sich hochmotiviert ...
Zwanzig Minuten später reihte er die Grippe-Mittelchen wie Zinnsoldaten in einer Reihe auf dem Couchtisch auf, und Sylvie seufzte dankbar. In der Küche bereitete er den versprochenen Tee zu und stellte das dampfende große Glas ebenfalls vor ihr ab. »Ziehen lassen, okay!«
Sie nickte zufrieden. »Wir hatten schon lang keinen Gast mehr, stimmt‘s!?«
»Mhm.« Er nahm ein Trällern in ihrer Stimme wahr und schmunzelte.
»Ist die Küche denn in ordentlichem Zustand?«
»So wie alle Räume«, antwortete er mit einem kleinen Augenzwinkern, das sie sofort verstand und deswegen ein wenig pikiert dreinblickte.
Ordnung und Sauberkeit in ihrem kleinen Reich waren wichtig für Sylvie, denn draußen versank die Welt schon ausreichend im Dreck und Chaos. Deswegen durfte nicht mal eine Erkältung sie vom Putzen und Aufräumen abhalten. Zum Glück ging ihr Ordnungsfimmel nicht so weit, dass sie beim Psychiater vorstellig werden musste. Alles, was sie brauchte, waren ein paar Kompromisse: Alex hinterließ keinen Saustall in Küche und Bad und sie ließ dafür sein Zimmer in Ruhe. Sie warf nichts von seinen Sachen weg, ohne ihn zu fragen, und er brachte den Müll raus, ohne zehnmal aufgefordert zu werden.
Er beugte sich zu ihr herunter. »Tschüss, Mama, ich fahr jetzt los.« Noch ein Kuss auf ihre Stirn und er rauschte hinaus.
Jetzt bin ich aber gespannt, mit wem er aufkreuzt , dachte Sylvie mit gemischten Gefühlen. Es würde das erste Mal sein, dass er eine Freundin mit nach Hause brachte - ja, gut, eine »Bekannte«, hatte er behauptet. Irgendwie machte sie dieser Umstand glücklich und todtraurig zugleich. Wie war es möglich, zwei so gegensätzliche Gefühle zu haben? Aber war das nicht bezeichnend für sie? Sie nahm ihr Teeglas hoch und pustete gedankenverloren hinein. Der heiße Dampf zog wohltuend in ihre Nase, und sie probierte einen kleinen Schluck. Und dann kamen die Bilder aus den kaputten Ecken ihres Herzens ohne Vorwarnung: wie sie mit ihrer trauernden und verängstigten Mutter in der Küche zusammengesessen und über die Zukunft gesprochen hatte. Wie sie eingewilligt hatte, mit Alexander in diese Wohnung zu ziehen und mit Agnes zusammenzuleben.
Sylvies Brust wurde schwer. Hastig trank sie noch ein Schlückchen und blinzelte die Tränen zurück.
Der erste Schlaganfall war am fünften Todestag von Theodor gekommen, der zweite zu Weihnachten vor vier Jahren und hatte ihre Mutter für immer dieser Welt entrissen. So viele erschöpfende Jahre des liebevollen und geduldigen Fütterns, Waschens, Anziehens waren zusammen mit der Hoffnung, Agnes werde genesen, mit einem Mal vorbei, aus und zu Ende. Es war ein Schock und zugleich eine große, schuldvolle Erleichterung, die sich wie Sünde anfühlte.
Eine ungeheure Last war von Sylvie genommen, aber auch die Mutter, deren Zuwendung nie genug gewesen war, Sylvie nie ausgereicht hatte, und jetzt war die Quelle ganz versiegt.
Sylvies Zusammenbruch war auf den Fuß gekommen.
Diesmal war es Alex, der auf dem Sprung ins eigene Leben plötzlich nicht gehen konnte ... Unsichtbar waren die Ketten ... stahlhart ...
August 1980 Dublin
Die hartgesottenen Sanitäter sprangen aus dem Hubschrauber und rannten so schnell sie konnten zur Unfallstelle - da, kurz vor der Ausfahrt auf die M1 in Richtung Stadtzentrum, lagen Motorradteile auf der Fahrbahn des Kreisverkehrs und ein regloser Körper in einer Benzinpfütze ...
Sie mussten ihn regelrecht vom Boden kratzen, reanimieren, stabilisieren - so gut es ging - und dann zum St.Vincent‘s Hospital fliegen.
Was für ein Glück der Junge
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