RECKLESS HEARTS
ihm in die Handtasche.
Also nach Madrid, hm? Auch die anderen Alternativen waren im Grunde genommen reinster Irrsinn. Und deswegen spielte es keine Rolle.
So kopflos in ein Abenteuer zu stürzen, war wohl nur im Film cool, im richtigen Leben würde man es eher Dummheit nennen, die Naivität einer Weltfremden. Aber auch das spielte keine Rolle, denn fremd war ihr nicht die Welt, sondern sie sich selbst.
Sie seufzte.
Schluss jetzt mit den subversiven Gedanken. Gehirn aus- und Autopilot einschalten, es gibt nur eine Richtung – erinnerst du dich? – immer geradeaus.
Dann also zurück zum Ticketschalter der berühmten deutschen Airline.
Last-Minute-One-Way-Ticket to the moon … oder so.
Im Allerlei-teure-Zeugs-Shop kaufte sie eine Filmzeitschrift und Pfefferminzdrops, suchte anschließend einen wenig besetzten Wartebereich auf, setzte sich auf einen Platz mit gutem Blick auf die Anzeigetafeln, blätterte in ihrer Zeitschrift, las nichts, sah sich vielmehr nur die bunten Hochglanzbilder von Hollywoodstars in ihren neuesten Filmen an, sprang auf, als die Check-in-Schalter für den Flug nach Madrid geöffnet wurden, fand nach ein paar Minuten Fußweg die richtige Warteschlange und stellte sich an, begann unweigerlich zu grübeln, während ihre Haut spannte.
Fischte den Zettel, den er ihr quasi im letzten Moment in die Hand gedrückt hatte, wieder hervor und betrachtete ihn erneut, als wär‘s ein Foto voller Erinnerung an einen schönen Moment, kräuselte die Stirn und schaute am Ende wie ein Kind, das man im Einkaufszentrum vergessen hatte.
Als sie an der Reihe war, wurde sie routinemäßig nach Gepäck gefragt, was sie kopfschüttelnd verneinte.
Dann Reisepass und Ticket, bitte! Danke, nach Madrid also ... Mhm! Allein? Mhm! Wo möchten Sie sitzen und so weiter … Und spätestens jetzt, wusste sie, sie wollte oder konnte nicht … nicht jetzt, wollte was anderes …
Was denn, Selin? Hat es etwas mit dem Zettel zu tun? Ja? Nein?
Oh, du weißt selber nicht?
Und was jetzt?
Die freundliche Stewardess am Schalter machte ein verwundertes Gesicht, gab, auf Selins hitzige Bitte und wirre Entschuldigung hin, den Reisepass samt Ticket zurück und lächelte mitleidvoll, obwohl sie keine Ahnung von nichts hatte ... Die soll sich um ihren eigenen Kram ...!
Am Verkaufsschalter erhielt sie ihr gesamtes Geld zurück, ganz ohne Probleme und war erstaunt über die mühelose Kulanz. War die Welt doch nicht so ungerecht?
Der Flieger nach Madrid hob in die Lüfte … ohne Selin .
Die suchte hektisch ein Münztelefon.
Stunden waren inzwischen vergangen, waren es schon zu viele oder noch zu wenig?
Sie blinzelte auf den Zettel, kniff die Lippen zusammen und vertraute ... blind … so kann‘s einem gehen!
»Ja?«
»Ich bin‘s, Selin.«
Ein überraschtes Zögern war zu spüren, dann: »Hey, Selin, von wo rufst du an?«
»Vom Flughafen.«
»Welchem?«
»Tegel.«
»Du musst also noch warten?«
»Ich hab mich anders entschieden …«
Schweigen.
Sie betrachtete ihre Finger. Entweder oder … es wird sich zeigen …
»Das bedeutet was?«, wollte er wissen oder tat zumindest so.
»Ich weiß nicht, wohin ich soll.« Sie sagte es mit einer Eindringlichkeit und einer kaum hörbaren Verzweiflung, sagte es mit klarer Stimme, bittend und ergebend zugleich.
Er war sich sicher, verstanden zu haben.
»Kann in einer Stunde da sein, aber ich komme nicht mit einem Wagen, ich …«
Aufgeregt fiel sie ihm ins Wort: »Ich warte da, wo du mich abgesetzt hattest.«
Jede Erinnerung an ihn aberkannte seinen Status als fremde Person.
Riskant?
Dumm?
Nicht für Selin.
Weil ihr Leben sich in kein Schema pressen ließ, genauso wenig wie ihre verkappten Gefühle. Weil sie in seine Augen geblickt und keine Angst verspürt hatte …
Und weil sie niemandem mehr Rechenschaft schuldig war ...
Also, schauen wir, wie es weiter ging ...
Er kam auf seiner Kawasaki, gebraucht gekauft vor Jahren, gepflegt wie ein Augapfel, bequemer Platz für die Sozia, welche bisher nur seine Mutter gewesen war – wenn er Sylvie mal aus dem Haus bekommen hatte - aber auch daran war ihr seit einiger Zeit die Lust vergangen. Und so cruiste er oft allein durch die Gegend, bis ihm der Himmel auf den Kopf fiel, oder fuhr illegale Rennen, deren Preisgeld er mit keinem Halsabschneider teilen musste, schließlich gehörte die Kawa nur ihm allein, kämpfte nur für ihn.
Sie wartete mit roter Nase, als er neben dem Bordstein knatternd zum Halten kam.
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