RECKLESS HEARTS
Gelegenheit sollte sie sich unbedingt Handschuhe und Schal kaufen, konnte nicht verkehrt sein. Aber ... vielleicht würde sie ja bald schon irgendwo anders sein, wo es wärmer wäre als in diesen Breitengraden. Sie atmete durch die Nase und stellte fest, dass dieser Kiez viel sauberer roch als Wedding oder Neukölln. Fast alle Fenster und Balkone waren mit Weihnachtsschmuck und Lichterketten geschmückt.
»Bestimmt schneit es bald«, sagte Alex, ohne sie anzusehen. Seine Stimme klang auf der Straße dunkler und tiefer.
»Ich liebe Schnee«, erwiderte sie, »... aber ich hasse Kälte.«
Sie hatte die Schultern hochgezogen und lief hastig.
Alex achtete darauf, dass sie mit ihm Schritt halten konnte, ohne aus der Puste zu kommen.
»Dein Name ... kommt der aus dem Türkischen?«, fragte er, als sie um die Ecke bogen. Der anvisierte Supermarkt leuchtete ihnen von Weitem in gelben Neonfarben entgegen.
»Ja«, antwortete sie knapp.
Nach einer kurzen Grübelpause fragte er weiter: »Und ... bist du hier geboren und aufgewachsen oder ... bist du nachgezogen?«
Mit einem stolzen Ton in der Stimme sagte sie: »Bin gebürtige Berlinerin. Und du?«
»Auch«, gab er rasch zurück.
Sie nickte. »Nicht mehr und nicht weniger, verstehst du?«
»Und dein Mann?«
»Mein zukünftiger Ex-Mann!«
Er schmunzelte mit einem Mundwinkel. »Ist der auch türkischstämmig wie du?«
»Er ist mein Cousin.«
»Dein Cousin?«, rief er schockiert aus.
Selin blieb abrupt stehen und Alex zwangsläufig auch. Hatte er sie mit seinem Tonfall beleidigt? Unsicher hielt er ihrem ernsten Blick stand.
»Ja, ich weiß, wie das für manche klingt ... nach Inzest und behindertem Nachwuchs«, sagte sie, die Lippen aufeinandergepresst und lief kurz darauf mit großen Schritten weiter. Er machte einen Satz und war wieder neben ihr.
»Hast du Kinder?«, wollte er diesmal wissen. Hartnäckig, der Junge ...
Wie sie die Augen verdrehte, sah er nicht. »Seh ich für dich aus wie eine Mama, Alex?«
Er stockte einen Moment. »Ist das jetzt eine Fangfrage?«
»Sag schon ...«
»Also, ich ... ich denke ... nein, irgendwie nicht. Du würdest doch nicht deine Kinder zurücklassen, oder?«
»Nicht, wenn ich welche hätte, aber zum Glück habe ich noch keine.«
»Wie lange warst du mit deinem ... deinem Cousin ... äh ... verheiratet?«
»Viel zu lang. Fünf Jahre.«
»Das ist verdammt lang für eine unglückliche Ehe.«
»Es war keine wirkliche Ehe ... so im klassischen Sinne ... du weißt schon: Tisch und Bett teilen und so.«
»Oh«, sagte er und meinte eigentlich: »Oh, schön ...«
Die restlichen Meter schwiegen sie.
Die Glastüren des Supermarkts öffneten sich automatisch und gewährten ihnen Einlass.
Selin griff nach einem Einkaufskorb und drückte ihn Alex gegen die Brust. In dem Moment spürte er eine Art irreales Hochgefühl, wie in einem Traum, als gäbe es nichts Schlechtes im Leben.
Zehn Minuten später standen sie an der Kasse hinter einem älteren Paar: der Mann klein und spindeldürr, die Frau kugelrund und mit einer gigantischen Pelzmütze auf dem Kopf. Die beiden hatte eine wortreiche Auseinandersetzung in einer Sprache, die nach Polnisch klang. Selin drehte sich kurz zu Alex um, der sie nur achselzuckend anlächelte. Dann konnten sie zwei Schritte vorrücken und ihre Einkäufe auf das Band legen: ein Päckchen rote Linsen, eine mit Sorgfalt ausgewählte Gewürzmischung, ein Fladenbrot, eine Flasche Olivenöl, Butter, eine Tüte Chiliflocken, Filterkaffee und Milch.
Selin begann, in ihrer Umhängetasche zu kramen, während die Kassiererin die Waren über den Scanner zog. Als Alex dies bemerkte, beugte er sich zu ihr herunter. »Hey, ich zahle natürlich!«, flüsterte er und kam dabei ihrem Kopf so nahe, dass seine Lippen beinah ihre Haare berührten. Sie hielt spontan die Luft an, bis er sich wieder zurückgenommen hatte. Mit einem kurzen Kopfnicken stimmte sie seinem Wunsch zu und blickte wieder zur Kassiererin.
Wieso hatte sie auf einmal Herzklopfen?
Unbemerkt ließ sie den angehaltenen Atem herausströmen und versuchte anschließend, normal weiterzuatmen.
Als sie aus dem Supermarkt traten, wurden sie von den ersten herabfallenden Schneeflocken dieses Winters überrascht. Selin streckte freudig die Arme in die Höhe und sah zum Nachthimmel hinauf. Dicke weiße Bilderbuch-Schneeflocken fielen tänzelnd auf ihr Gesicht, verfingen sich in ihren langen Wimpern und schmolzen sanft dahin.
»Wusst ich‘s doch«, rief Alex
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