RECKLESS HEARTS
Schublade. War er ein Zeichen?
Sylvie schmunzelte innerlich.
Wenn sie ihm diese Bedeutung zuschreiben wollte, warum nicht! Es blieb doch ihr und ihrem Glauben überlassen. Vielleicht war es höchste Zeit, auf ihr bisheriges Leben mit einer neuen, wohlwollenderen Deutung zu blicken. Die zurückliegenden Jahre, ausnahmslos, positiv zu betrachten und sich künftig an Zuversicht, statt an Resignation zu halten.
Keine leichte Sache! Gewiss nicht! Nein, nein, gar nicht einfach ... Oh, nein!
Aber es klang nach einem guten Vorsatz für das bevorstehende neue Jahr! Großer Gott im Himmel, es klang sogar nach einem sehr guten Vorsatz!
»Danke, Alex!«, sagte Selin, klemmte auf beiden Seiten die Haare hinter die Ohren und hob die Brauen. »Ich glaub, ich hol mir das Ticket heute noch ab! Sicher ist sicher.« Sie sah ihn erwartungsvoll lächelnd an, aber Alex lächelte nicht zurück.
»Wie du willst«, antwortete er, klang beinah ein wenig barsch, stand abrupt auf und nahm den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, hoch.
»Ich muss mal mit meiner Mutter kurz reden, wenn du mich bitte entschuldigst. Dauert nicht lange.«
Er drehte sich um und verschwand samt Stuhl durch die Tür.
Selin sah ihm noch etwas verwundert hinterher, weil er irgendwie ... förmlich ... ja, förmlich ... geklungen hatte. Sie konnte diesen Eindruck weder gleichgültig noch unbeschwert hinnehmen, was sie erst recht verwirrte ...
Okay , wechselte sie eilig den Fokus, es geht also nach England . Warum auch nicht?
Sie hatte sich mal vor einigen Jahren rein zufällig in einen Mitternachtsfilm hineingezappt und ihn schließlich fasziniert bis zum Ende geschaut. Er hatte von einem jungen Polen gehandelt, der sich nach dem tödlichen Autounfall seiner Familie nach London aufmacht, um dort nach Glück und Hoffnung zu suchen. Seltsamerweise erinnerte sich Selin nicht mehr an das Ende der Geschichte, nur daran, dass die Hauptfigur irgendwann gesagt hatte: »In Rückblenden erscheint das Leben immer nur so, wie man es gegenwärtig sehen möchte.« Sie hatte diesen Satz nie vergessen, und jetzt fand sie, dass es ein ziemlich guter Gedanke war. Sie fragte sich daraufhin, wie sie Alex in ihrer Rückblende sehen würde, wenn sie in London lebte ... oh, Halt, es musste heißen ... wenn sie sich in London durchschlug!
Blöde Frage und zu rein gar nichts zu gebrauchen.
Betrübt kräuselte sie die Stirn, stand auf, packte den Inhalt ihrer Umhängetasche - bis auf das Portemonnaie und ihren Pass - in ihren Reiserucksack und stellte beides auf einem der Sessel ab. Dann setzte sie sich gegenüber und schloss die Augen. Wenn ich in London bin , dachte sie, werde ich für Rückblenden nicht mehr viel Zeit und Muße haben, und das ist vielleicht auch gut so .
***
Er zog aus seiner Gesäßtasche ein zusammengefaltetes Papier - als wäre es irgendein unbedeutender Flyer einer Pizzeria oder dergleichen - und legte ihn vor Sylvie auf den Küchentisch.
»Was ist das?«, fragte sie mit großen Augen und rührte es nicht an.
»Schau nach, Mama!« Alex ließ sich auf dem Stuhl, den er gerade hereingetragen hatte, nieder und beobachtete mit einem Schmunzeln die höchstgespannte Mimik seiner Mutter. »Sagen wir, es ist ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für uns beide.«
Jetzt hob sie vorsichtig die Hand und führte sie wie in Zeitlupe zu dem ominösen Schriftstück.
»Mama!, schimpfte er lächelnd. »Mach schon!«
Sylvie faltete das Papier auseinander und las darin. »Oh, von der Bank«, sagte sie leise und schlug eine Hand vor den Mund. »Eine Art Beleg, hm ...«
»Genau! Lies, was draufsteht!«
Tränen benetzten ihre Augen. Er hatte tatsächlich den Bankkredit getilgt und die Ratenzahlungen aufgelöst. Das Konto war ausgeglichen, war sogar ein paar Hunderter im Plus. Es war zu schön, um wahr zu sein und doch war es wahr.
»Freust du dich, Mama?«, fragte er ernst.
Sie nickte.
»Alex«, schluchzte sie los. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, nur ... es tut mir so leid, dass ich unser Leben für uns beide so schwierig gemacht habe.«
Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Ach was, hör schon auf ...«, sagte er. »Was glaubst du, wie viele Menschen sich mit leichten Krediten verschuldet haben, du bist nicht die Einzige, glaub mir!«
»Sie versuchte zu lächeln, aber die Tränen rannten unaufhörlich ihre Wangen herab und ihre Nase lief.
Alex stand auf und kramte aus einer Schublade Taschentücher hervor.
»Mama ... Selin ist morgen weg, fliegt nach
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