- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
in ihren breiten Hüften wiegte. Er zog sie zu sich heran und drückte sie an seine Brust, während beide gleichzeitig die Schultern rollten.
»Nein«, sagte Valerie und wandte sich unvermittelt Henry zu. Ihr Mitgefühl mit ihm stieß an seine Grenze. »Lass sie doch feiern.«
»Jetzt ist nicht die richtige Zeit, finde ich.« Er schüttelte den Kopf.
Plötzlich wollte sie ihm wehtun, so wie ihr wehgetan worden war. »Du hast den Vogt doch gehört. Der Wolf ist tot. Das Leben geht weiter.« Schon im nächsten Augenblick hasste sie sich dafür. Er hatte doch nur ausgesprochen, was sie selbst empfand, und sie hatte ihn dafür angegriffen. Anscheinend war sie nicht mehr recht bei Verstand.
Sie drehte sich um, um sich zu entschuldigen, aber Henry war bereits fort.
William flitzte vorbei, Claudes Hut auf dem Kopf. Valerie entdeckte Claude auf der anderen Seite des Platzes. Er wirkte verwirrt und unschlüssig, was er tun sollte. Es war kein leichter Abend für ihn gewesen. Sie eilte zu ihm. »William ist ein Esel. Wir holen dir deinen Hut wieder.«
Er wollte nicht kindisch erscheinen, konnte aber sein Stottern nicht unterdrücken: »M-meine Schwester hat ihn g-gemacht.«
Valerie tätschelte ihm den Arm und sah zu William, überallhin, nur nicht zu Peter. Dann wandte sie ihren Blick dem Feuer zu. Je lauter die Musik wurde, desto höher schlugen die Flammen in den Nachthimmel. Dann erblickte sie ihren Vater. Er war im Matsch ausgerutscht und konnte nicht mehr aufstehen. Ein Mädchen hüpfte über ihn hinweg und die Schnürsenkel ihrer Stiefel streiften unsanft sein Gesicht.
»Entschuldige mich, Claude.« Im Näherkommen sah sie, dass ein Mann in einem schäbigen Wolfskostüm bei Cesaire stand und ihm mit dem flachen Wolfsschwanz ins Gesicht schlug.
»Ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten …«
»Lass ihn in Ruhe!«, schrie Valerie.
Als er nicht hörte, rannte sie hin, ergriff ein Scheitholz und drosch damit auf ihn ein. Ein paar Frauen, die feixend dabeistanden, verstummten und wichen erschrocken zurück.
»Du sollst ihn in Ruhe lassen, habe ich gesagt!«, schrie sie so laut, dass sie die Musik übertönte. Der Mann schlüpfte zurück in die johlende Menge.
»Willst du mein Trommelfell zum Platzen bringen?«, lachte Cesaire, mit dem Gesicht im Matsch auf dem Boden liegend. Anscheinend wusste er nicht, was mit ihm geschehen war, und wie es aussah, hatte er den Abend dazu genutzt, sich sinnlos zu betrinken.
»Ich meine es ernst.« Für gewöhnlich ging Valerie auf seine Späße ein. Aber heute Abend konnte sie nicht. Angesichts der erhöhten Aufmerksamkeit, die ihre Familie heute
erfuhr, wollte sie ihn lieber nach Hause bringen. In diesem Augenblick empfand sie den Verlust ihrer Schwester noch schmerzlicher als zuvor. Lucie hätte ihr geholfen, sich um ihren Vater zu kümmern. Beschämt sah sie, dass er in einer Lache seines eigenen Erbrochenen lag. »Papa …«
»Ich steh ja schon auf.« Es gelang ihm, sich aufzusetzen, aber weiter kam er nicht. »Ich glaube, ich habe mir ein Stück Zahn abgebrochen«, lallte er im Sitzen und rieb sich die Wange.
Valerie half ihm vorsichtig auf die Beine. Trotz seines Zustands gab er sich große Mühe. Sie hielt ihn an beiden Händen fest, während er hin und her schwankte und das Gleichgewicht zu finden versuchte.
»Was am Tag so leicht erscheint …« Er stützte sich auf sie und sie zog ihn von der Menge fort in Richtung ihres Hauses.
Er schaute an sich hinab, sah das Erbrochene auf seinem Hemd. »Ich mach das nur kurz sauber, dann bin ich wieder wie aus dem Ei gepellt«, sagte er und versuchte, es wegzuwischen.
Sie kamen an einer Gruppe Halbwüchsiger vorbei.
»Ist die bärtige Dame in Ohnmacht gefallen?«, rief ein Junge in singendem Tonfall.
»Ein Fräulein in Nöten!«, trällerte ein anderer.
Valerie biss sich auf die Zähne. Das Gewicht ihres Vaters hing wie ein Mühlstein um ihren Hals.
»Kümmere dich nicht um die«, murmelte Cesaire und torkelte weiter neben ihr her.
Valerie schämte sich dafür, dass sie sich für ihren Vater schämte. Sie wusste, dass er es merkte, und sie wusste, dass es ihn verletzte.
»Du bist mein gutes Mädchen«, brachte er heraus und bekam, in seiner Trunkenheit empfindlich, feuchte Augen. Er wollte sie mit der freien Hand tätscheln, verfehlte sie aber. Er drehte sich zu ihr, und diesmal gelang es ihm, ihren Kopf zu finden. Sie wusste, dass sie ihn von diesem abscheulichen Fest, das trotz des Todes seiner
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