Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Zäunen und Kieswegen, den gestutzten Hecken, dort wohnen ihre Verwandten, sie zieht weite Bögen rund ums Hundegebell und die blauen Fernsehlichter hinter den Fenstern, immer weitere Bögen, verschwindet in den Waldstücken hinter den Häusern, unterhalb der Bahntrasse, in den Lichtschneisen zwischen den Baumstämmen, selten hockt sie sich hin, sie ist dünn wie ein Ast und besteht doch aus Fett und Muskeln, die durch die Kleider drängen. Es ist noch dunkel, als sie zur Bahnstation kommt.
Der Zug ist anfangs fast leer, er rattert durch eine schwankende flache Landschaft. Kein Kontrolleur behelligt sie, lange Zeit schläft sie, und nur in der ersten Zeit des Schlafes, es können Minuten sein oder ein, zwei Stunden, glaubt sie noch, sie wäre wach, dann weiß sie auch im Schlaf, dass sie schläft. Ihr scheint, sie wäre in einer anderen Linie, als sie wieder aufwacht, und dennoch fährt sie wiederum in die Stadt hinein, die nun aber im Norden liegt statt im Süden oder im Westen statt im Osten. Ein merkwürdiges Vibrieren ist in der Luft.
Wieder sieht sie (zuerst im Waggon, verstreut, dann durchs Fenster) Demonstranten, ihre Schwester fällt ihr ein, fast hört sie ihre Stimme, ihre aufgeregte liebe Stimme, die ihr in der Erinnerung oder in der Vergangenheit auf die Nerven geht, sie weiß, wo ihre Schwester jetzt sein wird, in der Innenstadt, auf der Straße, empört, begeistert, niedergeschlagen, abwechselnd oder gleichzeitig, lieb und aufgeregt und ihr auf die Nerven gehend, ihre Schwester und die Freunde ihrer Schwester, falls sie noch Freunde hat oder jemals Freunde gehabt hat, sie weiß, was diese andere Frau (die sie nie mehr sehen wird) jetzt tun wird, welche Bilder, welche Illusionen (Freunde, Gerechtigkeit, Wahrheit) sie antreiben, dass sie vergisst, jetzt, dass sie vergessen wird, dich vergessen, es gibt keine Verbindung zwischen dir und deiner Schwester, zwischen dir und der Frau, mit der du dein ganzes Leben lang zusammengewohnt hast, zwei Kinder, zwei Mädchen, zwei Frauen, ein Haus, eine Wohnung. Die Wohnung ist ein leeres Stück Raum, die Stadt ist ein Stück Raum, wie der Wald, ein Stück Raum im Nichts wie dieser Zug wie der Wald wie dein Bett wie diese Sitzbank wie der Wald, du hast kein Haus. Du hast kein Bild von der Welt, nur die Welt. Fliegst du wie Luftballon (jemand sagt diesen Satz, ab und zu taucht diese oder irgendeine andere Stimme auf und sagt einen Satz, dann ist ein Satz da, der wie ein Luftballon wegfliegen wird). Sie schaut aus dem Fenster. Die Gebäude können sich (ein merkwürdiges Vibrieren) als Trugbilder erweisen, die Schienen führen durch die Leere, ein flirrendes Blau unter dem gläsernen Boden (sie schließt die Augen, denk an den Schmerz). Ihre Wäsche klebt an ihrem Körper, seit über einer Woche (rechnen wir zurück: seit über einer Woche) hat sie sich nicht mehr gewaschen und nicht mehr geduscht (seither ist Tag auf Tag gefolgt), seit über einer Woche: nachdem einer sie gefickt hatte, kein Tänzer, ein Niemand, ein haariges weißes Stück Fleisch auf ihr (das sie doch nicht berühren kann), oder, war sie nicht danach noch in einer Wohnung, vor genau einer Woche, sagen wir: am letzten Samstag, in der Wohnung einer Künstlerin am Markt, die sie, nachdem sie gegessen, gelacht und getrunken hatten, plötzlich allein gelassen hat, auf dem Fußboden schlafend, zwischen Fotos und Kunst und Gerümpel, Gerümpel, das Kunst werden konnte, Kunst, die wieder Gerümpel werden konnte, du stehst auf, findest eine Dusche ohne Vorhang in einem winzigen Badezimmer, ziehst dich aus, schließt die Augen, spürst das Wasser auf deinen Haaren und deinem Körper und bist wie Wasser, ziehst die alten Kleider auf deiner nassen Haut wieder an, vor einer Woche war sie in der Stadt, auf dem Markt, allein in einer Wohnung, hat gelacht, geschlafen, gebadet, ist gegangen, solange sie noch allein war, wie sie aus ihrer Wohnung oder der Wohnung ihrer Schwester gegangen ist, als sie allein war und sicher, dass ihr niemand nachschauen und niemand sie zurückhalten konnte.
Die Demonstranten sehen aus wie Fußballfans, sie besetzen den Waggon mit ihrer rücksichtslosen und flüchtigen Macht, Männer in mittlerem Alter mit Bäuchen oder Schnurrbärten oder mageren von senkrechten Falten durchzogenen Gesichtern (ein Mann mit magerem von senkrechten Falten durchzogenem Gesicht schaut sie traurig an, während einer seiner Kollegen einen Witz erzählt; der Mann mit dem mageren Gesicht, dem sehnigen kleinen
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