Regenbogen-Welt (German Edition)
verächtlich entgegen.
Biih senkte den Kopf. Zeigte Taiowa sein eindrucksvoll spitzes
Geweih. Die hölzerne Gestalt bewegte sich. Seine Lippen verzogen sich zu einem
geringschätzigen Grinsen. „Willst du mir etwa Angst machen?”, fragte er.
Biih warf den Kopf noch einmal stolz in den Nacken. Er wuchs
förmlich über sich hinaus. „Ich danke dir für diese Gelegenheit, Saha”, sagte
er und sah die Gottesanbeterin an. Sein Blick glich einem stummen Abschied.
Bevor sie etwas erwidern konnte, senkte er erneut den Kopf und rammte sein
Geweih mit aller Macht in den Totempfahl.
Taiowa stieß ein schmerzerfülltes ”Nein!” aus.
Biih schrie ebenfalls. In seiner Stimme vermischten sich Schmerz
und Triumph. Triumph darüber, einmal im Leben Mut bewiesen zu haben. Einmal im
Leben das nützliche Mitglied einer Gemeinschaft zu sein. Auch wenn sein Leben
damit beendet und sein Schicksal besiegelt war.
„Biih!”, schrie Saha aus Leibeskräften. Sie hatte dem Hirsch noch
so viel zu sagen. Hatte ihm Abbitte zu leisten und ihm zu gestehen, dass sie
endlich verstanden hatte, dass seine stille Sanftmut wahre Stärke war. Dass die
lächelnde Art, die er seinem Gegner entgegenbrachte, das Zeichen von Größe war.
„Biih, nicht!” Saha wollte zu ihm laufen, ihm all das sagen und
ihn auffordern, sein Geweih aus dem todbringendem Totem zu ziehen. Aber es war
zu spät.
Taiowa versuchte Biih mit den Armen zu umfassen und in den Pfahl
zu ziehen. Der Hirsch wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung. Immer wieder
stieß er sein Geweih in das brüchig werdende Holz des Totem. Dabei stieß er
schrille Kampfschreie aus. Taiowa schrie ebenfalls. Von seinen wulstigem
Holzlippen drang ein übler Fluch nach dem anderen.
„Du wagst es?”, schrie er, und seine Stimme überschlug sich.
Biihs nächster Angriff ließ den Pfahl erzittern. Ein unheilvoller
Sturm zog auf. Biih holte zum letzten Stoß aus. Er schrie etwas Unverständliches
und stieß sein blutendes Geweih in die Herzseite des Totem.
Es zischte und gurgelte. Taiowas Stimmgewalt wurde schriller und
schriller und erstarb schließlich.
Helles Licht schloss Biih und den Totempfahl ein.
Saha war gefangen in lähmender Furcht um den kämpfenden Hirsch.
Und dieses Gefühl war durchaus berechtigt. Es wurde zur furchtbaren Gewissheit,
als sich Biihs und Taiowas Schreie vermischten. Dann wankte der Totempfahl und
stürzte nach vorn. Begrub Biih unter sich. Es gab ein grauenhaft knirschendes
Geräusch, als dessen Genick brach.
Saha und Barb waren zuerst bei ihm. Das Totem, oder was noch von
ihm übrig war, begrub Biih immer noch. Das Holz war zerfetzt wie eine
Reisigmatte, über die Dahsani getrampelt war. In ihm steckte kein Leben mehr.
Ebensowenig in Biih.
Shash hatte mit Dahsanis Hilfe die kümmerlichen Reste des Totems
von der sterblichen Hülle des Hirsches gezogen. Biihs wunderschöne Augen
blickten gebrochen an ihnen vorbei. Saha ging in die Hocke und fuhr mit den
Händen über das noch warme Fell. „Es tut mir so leid, mein Freund!”, flüsterte
sie. „Es tut mir so unendlich leid.”
Ihr Blick fiel auf ihre Hände und zum ersten Mal wurde ihr
richtig bewusst, dass sie fünf Finger hatte. Menschliche Finger.
Saha fühlte nicht nur Trauer, sie war auch wütend. Sie fragte
sich, warum der Große Geist ein Opfer gefordert hatte. Und warum gerade Biih
über sich hinausgewachsen war. Sie bedauerte, dass sie sich nicht die Mühe
gemacht hatte, den Hirsch besser kennen zu lernen. Genau genommen plagte sie ihr
schlechtes Gewissen.
Sie begruben Biih. Die Hauptarbeit leisteten dabei wieder Shash
und Dahsani. Dadurch kamen sie sich näher. Schoben das gegenseitige Misstrauen
beiseite. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für persönliche Animositäten.
Sie brachen im Morgengrauen auf. In Saha kämpfte die Freude, dass
Barb wieder bei ihnen war, aber auch der Schmerz über Biihs Tod. Und sie
empfand nicht alleine so. Barb wich nicht von ihrer Seite. Ebenso Ishtar und
Shirkan. In allen lebte noch der Schock, einen der ihren verloren zu haben.
Auch wenn Biih sie nur kurz begleitet hatte.
In der darauf folgenden Nacht suchten Saha wirre Träume heim. Sie
stöhnte, warf sich hin und her und versuchte sich dem Klammergriff ihres
Unterbewusstseins zu entziehen. Es gelang ihr nicht: Rotgoldenes Feuer züngelte
vor ihr. Saha und Barb traten einige Schritte zurück, um einem vorwitzigen
Funkenregen zu entgehen. Fasziniert beobachteten sie Menschen, die einen
Singsang
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