Regency Reality-Show
Ferdinand Tobler.
„Wer sind sie?“ fragte ich in meiner deutschen Muttersprache, ohne zu überlegen. Kam dieses fast stimmlose Gekrächze wirklich von mir? Als er mir nicht gleich antwortete, stellte ich dieselbe Frage nochmals in Englisch.
Das runzlige Gesicht vor mir verzog sich zu einem sympathischen Lächeln. Dieser Mann hatte viel erlebt. Die Lachfalten um seine Augen liessen darauf schliessen, dass er sein Leben oft genoss. Die Falten oberhalb seiner Nase wiesen ihn als angestrengten Denker aus. Dann entdeckte ich aber auch ein paar Furchen, die auf ein schweres Leben hindeuteten.
„Ich bin Ferdinand Tobler, Dein Grossvater.“
Bum – eine Bombe war soeben neben mir explodiert. Oder hatte ich es mir nur ausgemalt? Das konnte nicht sein, meine Grosseltern waren tot. Wer war dieser Scherz-Keks? Ich versuchte es nochmals:
„Wer sind Sie?“ hauchte ich.
„Mein Name ist Ferdinand Tobler. Ich bin Dein letzter lebender Verwandter, oder anders rum: Du bist meine letzte lebende Verwandte. Ich kann Dir später einmal unseren gemeinsamen Stammbaum zeigen. Du bist effektiv eine entfernte Nichte von mir“ diese Erklärung gab er sehr sachlich von sich, fügte aber dann sehr gefühlvoll und leise an: „Ich möchte aber lieber Dein Grossvater sein.“
Ich musste schlucken und das tat teuflisch weh. Da steckte ein Fremdkörper in meinem Hals und der brennende Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, was wiederum meinen Möchtegern-Grossvater zu Tränen rührte, weil er mein Augenwasser falsch interpretierte. Das war etwas viel für mich. Müde schloss ich meine Augen und musste eingeschlafen sein, denn als ich sie später wieder aufschlug war ich alleine.
***
Nach drei Tagen entfernten sie mir endlich den Beatmungsschlauch und die Infusionsnadel. Die Monitore um mich herum verstummten, als sie alle Überwachungsgeräte ausschalteten.
„Sie werden von der Intensivstation in ein Einzelzimmer verlegt.“
„Das kann ich unmöglich bezahlen.“ Wehrte ich mich kraftlos. „Es ist besser, wenn ich jetzt nach Hause gehe.“
„Der Arzt hat Ihnen noch mindestens drei weitere Tage in unserer Obhut verschrieben. Also geniessen Sie sie. Und wegen der Kosten sollten Sie sich keine allzu grossen Sorgen machen. Herr Tobler ist im Verwaltungsrat unseres Privatspitals. Ihre Kosten sind auf jeden Fall gedeckt.“
Ferdinand Tobler, ein Mann der mir in wachem wie schlafendem Zustand immerzu im Kopf herumgeisterte. Bisher hatte ich noch nicht die Kraft gehabt, mich mit ihm zu unterhalten und hatte nach unseren ersten Worten hier im Spital nie wieder die Augen geöffnet, wenn ich wusste, dass er an meinem Bett sass. Meistens aber hatte ich sowieso geschlafen. Jetzt würde ich mir meinen Neo-Grossvater mal zur Brust nehmen. Bestimmt sah ich ihn in Kürze. Vielleicht wartete er bereits in meinem Krankenzimmer auf mich.
Es wartete tatsächlich jemand in meinem Krankenzimmer auf mich und der hatte sogar Blumen bei sich. Aber es war keiner der beiden, die ich erwartet und insgeheim auch erhofft hatte.
„Ich bin Sonderbeauftragter von Scotland Yard, Derek Johnson.“ Damit streckte er mir verlegen drei halb vertrocknete Sonnenblumen entgegen.
„Wie lange warten Sie schon auf mich?“ wollte ich wissen und sah dabei die traurigen Blumen an, die man vor Stunden hätte ins Wasser stellen sollen.
„Eine Weile. Niemand war bereit mir Auskunft zu geben, wann Sie verlegt würden und in die Intensivstation haben sie mich nicht rein gelassen.“
Fragend sah ich zu meinem Besucher auf. Was er von mir wollte? War er echt oder gespielt?
„Wie gespielt?“ fragte er mich zurück.
Mist, jetzt hatte ich schon wieder laut gedacht. „Ich fragte mich gerade, ob Sie ein echter Polizist sind oder nur ein verkleideter Schauspieler.“
„Ach das, ja ich kann verstehen, dass Sie nach Ihren vergangenen Erfahrungen etwas durcheinander sind. Aber seien Sie versichert, an der Situation hier ist rein gar nichts gespielt. Sie liegen tatsächlich im Spital und ich bin ein echter Hüter des Gesetzes.“
„Dann untersuchen Sie also meinen Fall – die Unfälle, die schlussendlich doch keine Unfälle waren und mir fast das Leben gekostet hätten.“ stellte ich fest.
„Bevor ich Ihnen ein paar Fragen stelle, möchte ich Ihnen herzlich gratulieren. Meine Frau und ich haben die Sendung nur Ihretwegen jeden Abend geschaut. Sie haben so lebensecht gespielt! Es ist richtig schade, dass die Show nun ohne Sie weiter laufen muss. Bestimmt
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