Reibereien
Vincent dabei vor mir her.
»Wo fahrt ihr hin?«
Ich nahm ein Ruder und stieß uns vom Ufer ab. »Hm, wo fahrt ihr hin?«
Sie war wirklich nicht mehr ganz bei Trost. Ich blickte sie einen Augenblick an, sah, daß sie noch ganz erregt von ihrem Ausbruch war, dann legte ich mich in die Riemen.
»Du hast ein echtes Problem«, rief sie mir nach. »Du solltest dich behandeln lassen.«
Ich lächelte und senkte dabei den Kopf. Damit sie nicht glaubte, ich mache mich über sie lustig.
Dann verschwand die Sonne hinter den Tannen, und Vincent wachte aus dem komatösen Schlaf auf, in den er seit unserer Abfahrt versunken war. Ich hatte ihm einen Hut aus Segeltuch aufgesetzt und ihn lange mit einem Foto meines Vaters verglichen. Mehrmals hatte ich mich über ihn gebeugt und den Hut auf seinem Schädel zurechtgerückt, um eine möglichst vollkommene Ähnlichkeit zu erzielen, und ich war wie betäubt.
»Du hast mir so gefehlt«, flüsterte ich. »Du hast uns so gefehlt.«
Mein Vater war seit zwanzig Jahren tot, und ich vergoß meine ersten Tränen mitten auf einem von dunklen Wäldern umgebenen See.
Vincent ließ das völlig kalt. Ich warf ihm wütend unsere Tasche mit Broten an den Kopf, doch er war durch nichts mehr zu erschüttern.
Dann faßte ich mich wieder. »Das ist gut. Das wird sie anlocken«, seufzte ich, während ich zusah, wie unsere Weißbrotscheiben abtrieben. Als wir anlegten, war der Himmel über den Wäl dern feuerrot und spiegelte sich im See wie Wein in einem Pokal.
Ich war noch ganz erschüttert von dem tiefen Schmerz, der mich überkommen hatte. Dennoch bemühte ich mich, wieder auf die Beine zu kom men. Ich trank ein paar Gläser mit Vincent, wäh rend ich das Essen zubereitete.
Er beklagte sich über die Mücken. Seltsamerwei se schienen sie geradewegs auf ihn loszuschießen, so daß ich mich fragte, ob nicht der Alkohol dafür verantwortlich war, daß sie sich auf diese Schnapsleiche stürzten wie die Armut auf die Menschheit. Ich holte eine Spraydose, um sie loszuwerden und Vincent nicht mehr meckern zu hören.
»Hast du den Revolver angerührt?« fragte ich, als ich bemerkte, daß die Schachtel nicht mehr an derselben Stelle lag.
Ich wartete nicht einmal seine Antwort ab. Ich nahm die Schachtel und legte sie gut sichtbar auf den Tisch. Ich warf den Deckel weg.
»Ich habe dich nie daran gehindert, ihn zu berühren«, sagte ich zu ihm.
Er berührte ihn nicht. Er begnügte sich damit, ihn anzustarren, wobei er seine Handflächen an sei ner Hose abwischte, dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Ich versprühte noch einmal das Zeug aus der Spraydose. Vielleicht war es in gewisser Konzentration schäd li ch. Oder Vincents Gesund heit war noch schlechter als ich gedacht hatte. Wie dem auch sei, er wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, der endlose Minuten dauerte, obwohl von der Veranda her frische Luft hereinkam. Ich war mir sicher, daß wir die Leute des benachbar ten Hauses wecken würden, so heftig und furchtbar war sein Schleimhusten. Und tatsächlich leuchtete ein Licht hinter den Bäumen auf, und Hunde bellten lange in der Dunkelheit.
»Etwas Schlimmeres, als dir zu begegnen, konn te ihr kaum passieren. Weißt du das?« rief ich ihm über den Tisch zu, nachdem wir mehrere Minuten lang kein Wort mehr gewechselt ha tt en. »Du bist der größte Scheißhaufen, auf den sie jemals gestoßen ist.«
Und da auch ich etwas getrunken hatte, packte ich ihn und schüttelte ihn mit einer Wut, die mich selbst überraschte, und schrie, daß er unser Leben zerstört habe und zur Hölle fahren könne.
Daraufhin ließ ich ihn los und ging nach drau ßen, um Luft zu schnappen und mich zu beruhi gen.
Ich wartete, bis das Blut in meinen Schläfen nicht mehr pochte.
Und da ich wußte, daß ich nicht den Mut hatte, ins Haus zurückzugehen, kletterte ich ins Boot und entfernte mich vom Ufer.
Das war eine gute Idee, denn ich konnte mei ne ganze Energie darauf verwenden, mich wie ein Wahnsinniger in die Riemen zu legen und alle Mus keln meines Körpers anzustrengen, um sie so von der übermäßigen Spannung zu befreien, die sie elek trisierte.
Etwa in der Mitte des Sees gönnte ich mir eine Ruhepause. Ich hob die Ruder hoch und hörte, wie das Wasser von ihnen abtropfte, während ich das stille Ufer musterte. Ich rechnete nicht wirklich damit, einen Schuß zu hören, aber dennoch spitzte ich die Ohren. Zugleich begriff ich nicht, wie es dazu hatte kommen können und wie man nur so bescheuert
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