Reich und tot
Humes Befragung der Nachbarn bis jetzt als völlig fruchtlos erwiesen hatte. Abgesehen von dem üblichen gemeinsamen Drink an Weihnachten, schien es von einer überlangen Einfahrt zur nächsten kaum Kontakte zu geben. Alle wussten, wer sonst noch in der Nachbarschaft wohnte, und hatten wohl auch einegrobe Vorstellung davon, wer da wie viel wert war. Aber die Häuser gut betuchter Engländer waren, Mick Humes mageren Ergebnissen nach zu urteilen, immer noch einsame Festungen. Jacobson hatte ihn angewiesen, dennoch den Nachmittag über an der Sache dranzubleiben.
Man weiß nie, alter Junge, man weiß nie.
Die Sonne brannte mit voller Kraft auf sie herab, als Ogden in Geoffrey Trayners Privatstraße einbog. Jemand hatte sich krankgemeldet, und so hatte Ogden ein paar Überstunden ergattern können. Der Junge muss der eifrigste Mann im ganzen Präsidium sein, dachte Jacobson, oder er hat Schulden. Jacobson hatte beide Fenster hinten heruntergekurbelt und ließ den linken Arm aus dem Auto hängen, um seinen Körper daran zu erinnern, wie sich Kühle anfühlte. Wenigstens hatten Smith und Williams eine verwertbare Aussage von Kevin Holland bekommen, eine, die Mortimer ein klassisches Mordmotiv gab. Nicht, dass sich Jacobson darauf verlassen würde. Bevor er sich zu Ogden in den Wagen gesetzt hatte, hatte er Kerr aufgetragen, Hollands Behauptung über seine mehrtägige Abwesenheit zu überprüfen. Er würde nicht in die Falle des faulen Ermittlers tappen, der sich nur auf den offensichtlichen Verdächtigen konzentrierte und den größeren Zusammenhang außer Acht ließ.
Der Streifenwagen näherte sich Boden Hall. Wohin er auch blickte, sah Jacobson geschäftige Leute. Ein paar Männer bauten ein großes Zelt ab, und ein ganzer Trupp schien mit Säuberungsarbeiten beschäftigt: Die Leute sammelten Zigarettenstummel ein, vereinzelte Weingläser und leere Flaschen Bollinger. Beruflich war er noch nie hier gewesen, aber er erinnerte sich schwach an einen privaten Besuch vor langer Zeit, mit Janice und Sally, als Sally noch ganz klein gewesen war. Da hatte eshier so etwas wie einen Tag der offenen Tür gegeben. Es war eine glückliche Erinnerung.
Geoffrey Trayner war voll in die Aufräumungsarbeiten eingebunden, doch allein in aufseherischer Funktion. Wenn ich hier schon mal war, dachte Jacobson, war das sicher vor Trayners Zeit. Nachdem die letzten Vertreter der Familie Boden die letzten Reste des Familienvermögens verpulvert hatten, war Boden Hall sicher ein gutes Jahrzehnt unbewohnt geblieben. Trayners Einzug hatte Aufsehen erregt, nicht zuletzt, weil er das Anwesen für einen Spottpreis erworben hatte, allerdings unter der Prämisse, seinen früheren Glanz wiederherzustellen. Trayner hatte sein Geld in den 1980ern verdient, mit Geschäften, von denen Jacobson nur eine vage Vorstellung hatte. Da ging es um Spekulationen, feindliche Übernahmen und Aufkäufe. Es gab ein Wort dafür, an das er sich aber nicht erinnern konnte. Das Entscheidende war offenbar gewesen, dass Trayner Geld mit Geld gemacht hatte, ohne den Aufwand, selbst etwas zu produzieren oder zu leisten.
Ogden war rasch hergekommen, obwohl er doch die Nacht über nicht geschlafen hatte. Jacobson dankte ihm und bat ihn zu warten. Trayner kam bereits auf ihn zugelaufen, als er aus dem Auto stieg. Soweit Jacobson wusste, stand Geld für Trayner nicht mehr im Mittelpunkt. Jetzt, wo er vermutlich mehr als genug davon besaß, ging es ihm um Macht, Einfluss und öffentliches Ansehen. Irgendwann in den 1990ern war er auf den New-Labour-Zug aufgesprungen und seit den letzten Wahlen der örtliche Europaabgeordnete.
Jacobson zeigte ihm seinen Ausweis und stellte sich vor. Trayner schüttelte ihm kräftig die Hand, wobei er seinen Daumen nacheinander über die Knöchel vonJacobsons Hand gleiten ließ. Hastig zog Jacobson seine Hand zurück und erwiderte die Geste ganz eindeutig nicht.
»Ich muss sagen, Chief Inspector, in solch einer Sache hätte ich nicht mit jemandem Ihres Ranges gerechnet, nachdem Ihr Constable letzte Nacht schon alles aufgenommen hat. Aber es freut mich natürlich, Sie kennenzulernen.«
Trayner war jünger als Jacobson und älter als Kerr. Er sah von Angesicht zu Angesicht genau so aus wie in der Zeitung oder im Fernsehen. Jacobson hatte ihn in ›Question Time‹ erlebt, der beliebten Politikerbefragung durchs lokale Publikum, als die Sendung hier in der Gegend aufgezeichnet worden war. Nicht, dass das Spektakel dozierender Großmäuler, die den
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